Flucht nach Altenlingen und Holthausen

Kämpfe in Lingen, Ehemann in Kriegsgefangenschaft

Die Lingenerin Käthe Niehüser heiratete 1943 den Soldaten Josef Contzen (1915-2011), der aus Krankheitsgründen vom Fronteinsatz freigestellt war. Sie fanden eine kleine Wohnung in der Masebergstraße. Im Herbst 1944 wurde Contzen jedoch zu einer Krankeneinheit an die Ostfront abkommandiert.

Seine Frau war mittlerweile schwanger und zog zu ihren Eltern an die Meppener Straße. Dort erlebt sie den Einmarsch der Engländer und die Evakuierung der Zivilbevölkerung nach Altenlingen und Holthausen. Bei der Rückkehr in das Elternhaus bot sich ein trauriges Bild, doch die Schwangere und ihr ungeborenes Kind blieben unversehrt.

Zum werdenden Vater war der Kontakt mittlerweile abgerissen, denn Josef Contzen war in russische Kriegsgefangenschaft geraten und galt als Vermisst. Erst 1946 konnte er ein Lebenszeichen nach Lingen senden und wurde zu Weihnachten 1947 in die Heimat entlassen.

Die Familie Contzen mit Tochter Maria wieder vereint 1948

Das Ehepaar Contzen ist mittlerweile verstorben, doch die 1945 geborene Tochter Maria hat den Nachlass ihrer Eltern bewahrt und kann über die damaligen Ereignisse noch Zeugnis geben. Ihre Mutter hielt ihre Kriegserinnerungen 1994 in einem Schreiben fest:

„Wir schrieben das Jahr 1944. An allen Fronten, besonders im Osten, wurde hart gekämpft. Mein Mann hatte, als Berufssoldat, lange das Glück, in der Schreibstube des Wehrbezirkskommandos beschäftigt zu sein. Ein chronisches Magenleiden trug dazu bei, nicht an der Front eingesetzt zu werden. Im Mai 1943 geheiratet, hatten wir

das Glück, eine kleine, teilmöblierte Wohnung, ohne fließendes Wasser und Abfluß, zu bekommen. Da wir beide berufstätig waren, hatten wir ein Nest, wo wir abends zusammen sein konnten. Die Bestimmungen aber wurden immer mehr verschärft und so kam auch dann der Befehl, ein sogenanntes Magenbataillon aufzustellen. Mein Mann mußte also Abschied nehmen. Als diensttuender Hauptfeldwebel musste er eine Kompagnie in Bielefeld übernehmen, um dann später im Osten eingesetzt zu werden. Nur wenige Wochen vergingen und es ging auf nach Leslau an der Weichsel. Zum Abschied gab es noch einen kurzen Heimaturlaub, den wir als junges Paar zwar mit Abschiedsweh, aber verliebt verbrachten.

Nach einigen Wochen stellte ich mit gemischten Gefühlen fest, dass unser Baby unterwegs war. Ich berichtete meinem Mann und diese Nachricht hat ihn noch so gerade vor dem Abtransport an die Ostfront in den Raum Thorn erreicht. Schon nach kurzer Zeit hatte der Russe die Festung Thorn erobert. Das ganze Bataillon war eingeschlossen und wurde gefangen genommen. So bekamen wir keine Nachricht mehr voneinander.

Was war nun alles auf uns gekommen? Ich war als Zahnarzthelferin in einer Praxis beschäftigt, die die Wehrmacht übernommen hatte. Jeden Tag und jede Nacht heulten mehrmals die Sirenen und der Luftschutzkeller mußte aufgesucht werden. Dann passierte es. Vor unserem Haus, auf den Bögen, fiel eine Bombe, und es wurde unbewohnbar gemacht. Wir mussten ausziehen. Zum Glück war unsere kleine Welt sehr dürftig eingerichtet. In meinem Elternhaus waren noch zwei Dachkammern frei und sie wurden hergerichtet. Tag und Nacht gingen die Sirenen, und wenn wir in Lingen auch, bis auf einige Angriffe, verschont blieben, so waren es doch große Ängste, die täglich auf uns zukamen, und immer wieder bangte ich um das in mir wachsende Baby und seinen Vater. Da es auf Bezugsschein ja nur wenig Wäsche und Zubehör gab, begann jetzt das große Stricken und Nähen. Unter der Hand bekam man schon mal Baumwollgarne und mit viel Eifer entstanden Hemdchen, Strampler, Jäckchen usw.

Hier in der Heimat rückte auch die Front immer näher. Es war um die Osterzeit, da wurde es brenzlich. Englische Truppen sollten einmarschieren. Da wir an der Ausfallstraße nach Meppen wohnten, fanden es meine Eltern besser, uns etwas im Hintergrund einzuquartieren, und Verwandte wohnten in der Nähe. Von weit und breit kamen Menschen, und alle fanden dort Platz im Luftschutzkeller. Die wichtigsten Sachen, unter anderem auch den Koffer mit Babysachen, nahmen wir mit. Als aber die Nachricht kam, der Tommi sei da und wir als Zeichen der Ergebung mit unseren weißen Taschentüchern winkten, mussten wir alle ohne jegliches Gepäck den Keller verlassen und wir marschierten hintereinander wie die Gefangenen nach Altenlingen. Dort wurden wir und noch viele Menschen mehr im Haus Schomaker am Dorfrand untergebracht; nur im Besitz dessen, was wir am Körper trugen. Die Bäuerin tat ihr Bestes. Sie kochte Pellkartoffeln in einem riesigen Futterkessel, und ab und zu durften wir mal von trockenen Würstchen abbeißen.

Abends, bei Anbruch der Dunkelheit, kam das Kommando, uns alle wieder in Bewegung zu setzen. Wir mussten über die provisorische Brücke, die andere war in die Luft gesprengt worden. Ich hatte furchtbare Angst, man würde uns am Kanalufer rücklings erschießen, so dass wir vornüber ins Wasser fallenwürden, wie man es in der Zeit häufig hören konnte. Man führte uns in eine große, alte Scheune des Bauern Fleming. Von allen Seiten strömten Menschen herein. Stroh lag reichlich da, und wir konnten unser Nachtlager herrichten. Am frühen Morgen aber begann der Beschuss. Mit einem Bund Stroh, das wir über unseren Körper zogen, meinten wir die Gefahr etwas bannen zu können. Plötzlich wurde durch einen Volltreffer in nächster Nähe eine Frau erschossen; zwei Männer bekamen Streifschüsse und es brach Panik aus. Alle stürmten ins Freie. Dort, an einem Graben, warteten wir den Beschuss ab und immer, wenn ein Schuss fiel, warfen wir uns auf die Erde. Dabei bekam unser Nachbar einen Streifschuss durch die Hose. Das Bein blieb aber unverletzt.

Später, als es dann ruhiger wurde, sind wir querfeldein durch die Äcker gezogen. Einheimische wussten, dass die Bauern in dieser Gegend Wagen mit Proviant versteckt hatten, und beherzte Männer nannten es nicht stehlen, sondern Mundraub, und ihre hungrigen Familienangehörigen waren ihnen dankbar. Bald waren wir auf dem großen Bauernhof Holt in Holthausen. Jeder Stall, Haus und Hof wurden mit Flüchtlingen belegt. Wir landeten im Gänsestall und hofften, bald wieder nach Hause zu dürfen. Wieder wurden in großen Viehkesseln Suppen gekocht, aber für die etwa 500 Menschen reichte es nicht hin und nicht her. Fünf Tage waren wir nun so untergebracht, aber immer konnten wir noch nicht zurück. Dann kam der große Aufbruch und alle strömten der Heimat zu. An den Straßenrändern aber lagen, von den vorhergegangenen Kämpfen, totes Vieh und totes Wild und bei jedem Anblick erschrak ich und hatte Angst um mein Baby.

Zu Hause angekommen, war der Eindruck furchtbar. Auf unserem Hof, gerade da, wo mein Vater Wertsachen und sogar eine Schmalztopf vergraben hatte, stand ein Panzer. Englische Soldaten hatten unser Haus in Beschlag genommen, unser Schwein geschlachtet und hatten gehaust wie die Vandalen. Ich habe meinen Vater nie weinen gesehen, aber bei dem Anblick kamen ihm die Tränen. Unsere Matratzen konnten wir, stark verdreckt, in den Erdlöchern der Schützen wiederfinden. Alles lag durcheinander und durch die vorherigen Plünderungen waren bei uns Sachen aus verschiedenen Stadtteilen durcheinander gewühlt. Vom geschlachteten Schwein hatte man nur die besten Stücke verwandt, und die Reste in die Regentonne geworfen. Viele Fahrzeuge standen im Garten und auf dem Feld. Gott Dank, die Soldaten wurden bald abgezogen und wir konnten, soweit es ging, wieder Ordnung schaffen. In dem Luftschutzkeller aber sah es noch wüster aus. Alles war zertrampelt und der Koffer mit Babywäsche glich einem Sauhaufen.

Wochen später aber, als alles wieder zur Ruhe gekommen war, kamen von Überall nette, hilfsbereite Menschen und brachten mir Babyausstattung. Ich hatte vier Kinder, habe aber bei keinem meiner Kinder so schöne Sachen gehabt wie bei meinem Kriegskind. Da ich, wie ich schon schrieb, einiges an Ängsten um mein in mir wachsendes Kind ausgestanden hatte, reifte in mir der Entschluss, es Maria zu nennen, falls es ein Mädchen werden sollte. Denn manches Stoßgebet ging in meiner Not zur Gottesmutter gen Himmel. Von meinem Mann sah und hörte ich nichts, doch gewiss war es mit dem Namen Maria einverstanden.

Dann, nach heißen Sommermonaten, wurde im August endlich die kleine Maria geboren. Nach einer schweren Geburt war die erste Frage: ist das Kind nach all den Geschehnissen noch gesund? Ich war erst beruhigt, als ich später feststellte, dass das Kind prächtig gedieh. Nur vom Vater wussten wir nichts.

Ungefähr 1 ½ Jahre später kam die erste Karte von ihm aus russischer Gefangenschaft. Auch ich konnte Feldpostkarten schicken, aber sie waren jedes Mal lange unterwegs. Ende 1947 kam eine Nachricht aus einem russischen Lazarett. Mein Mann hatte sich zu der Ernährungsstörung eine nasse Rippenfellentzündung zugezogen. Die Hungerjahre hatten ihn wohl sehr geschwächt. Die Hoffnung aber, nach der Genesung entlassen zu werden, stieg. So kam es denn auch. Kurz vor Weihnachten, es war an einem Sonnabend, sah ich vor dem Fenster einen Schatten vorbeiziehen und ich wusste sofort, es war mein Mann. Das war das schönste Weihnachtsgeschenk für uns alle. Die zerlumpte Wattejacke, der kahlgeschorene Kopf und das von Hunger und Krankheit aufgedunsenes Gesicht waren kein schöner Anblick und unsere Tochter fürchtete sich vor ihrem Papa. Wir aber waren glücklich, wieder beisammen zu sein.

Erinnerungsstücke von Josef Contzen an seine Kriegsgefangenschaft in Russland
Selbstgefertigte Löffel aus der Kriegsgeschaft waren für Josef Contzen wertvolle Erinnerungsstücke an seine Jahre als Kriegsgefangener in Russland