Vom Durchzug der Front verschont geblieben

Kindheitserinnerungen an das Kriegsende in Schapen

Wegen der Moor- und Niederungsgebiete zwischen Spelle, Dreierwald und Schapen blieb der Ort vom Durchzug der Front verschont

Hugo Vaal (1934 -2020) hat in seinen letzten Lebensjahren eine mehrbändige Hof- und Familiengeschichte seiner Vorfahren in Schapen zusammengestellt. Darin berichtet er auch über seine Erinnerungen an

die Kriegsjahre und das Kriegsende im beschaulichen Schapen. Durch die Nähe zum Flugplatz Dreierwalde konnte er die dortigen Angriffe und Luftkämpfe hautnah mitverfolgen. Schapen selber wurde schließlich von der Front quasi umfahren, weil ein direkter Vormarsch auf den Ort durch das Moorgebiet der Speller Dose und die sumpfigen Niederungen der Aa nicht möglich war. Erst in der Nacht zum 8. April 1945 setzten sich die hier stationierten Wehrmachtstruppen ab, um nicht umzingelt zu werden.

Ursprünglich planten die Engländer ihren Vormarsch auf der Route Spelle-Schapen-Schale, doch der Vorstoß blieb in der Speller Dose stecken und Schapen wurde von der Front quasi umgangen

„Während der ersten Kriegsjahre hat sich für uns erstmal nicht viel geändert. Mein Vater hatte ein Auto, einen Opel P4, der sofort zu Anfang des Krieges stillgelegt wurde, weil Benzin ein kriegswichtiger Stoff war. Ferner wurden Lebensmittelkarten eingeführt. Die ersten Bomben fielen in Schapen im Frühjahr 1942. Ich kann mich so genau daran erinnern, weil Christa [meine Schwester] um diese Zeit geboren wurde. Viele Leute sind zu den Bombentrichtern gefahren um sie zu sehen, ich unter anderem auch.

Die ersten Bombentrichter erregten noch großes Aufsehen und wurden von vielen besichtigt

Mein Bruder Bernd wurde 1942 zu den Soldaten eingezogen, er kam zur Ausbildung ins Ruhrgebiet und anschließend nach Frankreich. Im Juni 1943 landeten die Amerikaner auf Sizilien, hier wurde er nun als Infanterist eingesetzt. Er ist dann im Laufe des Sommers in Italien in amerikanische Gefangenschaft gekommen. Wir bekamen von ihm recht bald aus der Gefangenschaft eine Karte. Diese Karte erreicht uns früher als die Vermisstenmeldung der deutschen Wehrmacht. Bernd wurde mit dem Schiff nach Amerika gebracht, wo er am Weihnachtsmorgen 1943 eintraf, der Zielhafen war New York. Die Überfahrt hat vier Wochen gedauert und unterwegs haben sie Angst gehabt, dass sie von deutschen U-Booten angegriffen werden. Ich glaube, Bernd kam 1947 aus der Gefangenschaft nach Schapen zurück.

Ignatz musste 1944 zu den Soldaten, vorher war er noch beim Arbeitsdienst in Insterburg in Ostpreußen. Der Arbeitsdienst dauerte ein halbes Jahr. Nachdem er hier entlassen wurde war er noch einige Monate zu Hause, bis er zu den Soldaten musste. Er hat eine sechswöchige Ausbildung in Nimwegen in Holland gemacht und kam dann sofort an die Front. Der Einsatz war nicht von langer Dauer, nach drei Tagen kam er in amerikanische Gefangenschaft. Es muss im Herbst 1944 gewesen sein. Ignatz war länger als ein Jahr vermisst, bis die erste Nachricht von ihm eintraf.

Hein wurde im Mai 1944 mit 16 Jahren zu den Flakhelfern eingezogen. Er war in Handorf bei Münster stationiert. Hein bekam öfter übers Wochenende Urlaub, er trug eine schicke Fliegeruniform. Er wurde von den Vorgesetzten nach Hause geschickt, weil er von hier Lebensmittel wie Schinken, Speck, Eier usw. mitbrachte. Zu der Zeit sehr gefragte Sachen. Als die Front näherkam, wurde Hein die letzten Wochen als Infanterist an die Front geschickt. Als sie eines Morgens merkten, dass der Vorgesetzte getürmt war, ist Hein mit seinem Kollegen aus Hopsten in einer Scheune liegen geblieben und sie haben die Front vorzeihen lassen. Jetzt haben sie sich alte Zivilsachen besorgt und sind hinter der Front zu Fuß nach Hopsten gegangen. Sie wurden unterwegs von englischen Soldaten kontrolliert, aber diese haben sie gehen lassen. Ich denke, die Tommys haben gedacht: „Lass die Kinder zu ihren Familien gehen“. Hein musste noch einige Tage in Hopsten warten, weil in Schapen noch die deutschen Soldaten waren. Wäre er von diesen geschnappt worden, hätte das böse ausgehen können. Deserteure wurden zu der Zeit meistens sofort erschossen oder aufgehängt. Am weißen Sonntag, es war der 8.4. 1945, ist er dann weiter nach Schapen gegangen und war nachmittags zu Huse. Die Nacht vorher hatten die letzten deutschen Soldaten Schapen verlassen.

Durch Luftkämpfe am Flugplatz Dreierwalde kam es auch auf dem Schapener Gebiet zu Flugzeugabstüzen und Bombenabwürfen mit den entsprechenden Folgen

Der Flughafen Dreierwalde, der nur 4 bis 5 Kilometer Luftlinie von uns entfernt war, wurde auch häufig angegriffen. Es wurde Vorschrift, dass jede Familie einen Bunker haben musste. Wir haben einen in einer Böschung am Wittenberg gegraben. Der Bunker war abgestützt mit Balken, oben kamen Bretter darüber und dann eine dicke Schicht Sand oben drauf. Drinnen standen Bänke und zwei Ausgänge musste er haben. Dieser besagte Raum sollte bei Fliegeralarm aufgesucht werden, aber das haben wir in den wenigsten Fällen gemacht. In Schapen gab es keine kriegswichtigen Ziele. Die Bomben, die bei uns fielen, waren aus Versehen abgeworfen worden. Oder die Bomber waren in einen Kampf verwickelt und wollten einen Teil ihrer Last loswerden.

Ich meine ab 1944 wurden die Angriffe auf deutsche Städte immer häufiger. Flogen die Flieger anfangs noch ausschließlich nachts, flogen die Bomberverbände jetzt morgens bei uns vorbei und nachmittags kamen sie ohne Fracht zurück. Ein Verband von fünfzig Flugzeugen, ein Flieger flog immer als Anführer an der Spitze. Oft habe ich über 50 Verbände gezählt. Die ganze Luft brummte und dröhnte über Stunden. An dem Geräusch konnten wir genau hören, ob es deutsche oder ausländische Flugzeuge waren. Die Erwachsenen sagten, die Bomber fliegen nach Hamburg, Bremen oder Berlin. Der Flughafen Dreierwalde wurde auch immer häufiger angegriffen. Zum Schluss des Krieges manchmal täglich. Für mich als Junge war es interessant, die Luftkämpfe zu beobachten. Es kam schon mal vor, dass ein Flugzeug abgeschossen wurde. Ich erinnere mich an einen Fall, da sprangen 10 oder 12 Soldaten aus einem Flieger und sie hingen alle mit ihren Fallschirmen in der Luft. Bei uns in der Gegend sind mehrere Flugzeuge abgestürzt.

1944 kamen Evakuierte aus Köln, die ausgebombt waren. Zu uns kam Paul’sche Gattinger. Seine Mutter war mit den anderen Kindern bei einer anderen Familie untergebracht. Im Herbst 1944 kam auch Frau Stubbe mit ihren zwei Töchtern zu uns. Stubbes kamen aus Stettin. Sie hatten immer fürchterliche Angst, wenn Dreierwalde angegriffen wurde.

Soldaten und Zivilisten aus Schapen hören gespannt auf die neuesten Nachrichten von der Front

Die Front kam immer näher und jeder wusste, dass der Krieg verloren ist und zu Ende geht. Aber die bange Frage stand im Raum, wie wird der Einmarsch sein, gibt es Kämpfe, kommen Personen zu Schaden, werden Häuser zerstört oder niedergebrannt? Man wusste schon, dass die Engländer sich humaner verhalten als die russische Armee im Osten. In der Zeitung und im Radio gab es Durchhalteparolen und Gefasel vom Endsieg. Ich kann mich noch gut erinnern, wenn der Führer Adolf Hitler im Radio sprach, der brüllte und schrie, das habe ich heute noch im Ohr.

Ab 1944 kamen die V1 und etwas später die V2 zum Einsatz. Dieses waren Raketen, die ersten der Welt. Die V2 wurde von Werner von Braun entwickelt. Sie wurden abgeschossen, ich glaube, von der Nordseeküste mit dem Ziel London. Wir konnten die manchmal fliegen sehen, ob es nun welche gewesen sind, weiß ich nicht, auf jeden Fall wurde es gesagt.

Ende 1944 mussten ältere, noch arbeitsfähige Männer aus Schapen nach Elbergen in der Nähe von Lingen zum Schanzen. Hier wurden Panzergräben gebaut. Dies waren breite, tiefe Gräben, mit denen die Panzer aufgehalten werden sollten. Ich weiß, dass unser Heuermann Strotmann auch dahin musste.

Zu dieser Zeit wurde auch der Volkssturm zusammengestellt. Alle Männer, die nicht im Krieg waren und noch laufen konnten, mussten sich melden. Diese sollten den Feind noch aufhalten. Im Frühjahr 1945 kamen immer häufiger Soldaten bei uns auf dem Hof. Oft waren sie völlig ausgehungert. Meine Mutter und meine Schwestern haben dann Kartoffeln und Milch gekocht, damit sie satt wurden.

Im Februar 1945 mussten in Schapen Panzersperren gebaut werden. Eine stand am Anfang des Dorfes bei Düsing. Völliger Blödsinn, die Panzer hätten nur rechts hinter dem Gebäude übers Feld fahren zu brauchen und sie wären im Dorf gewesen.

Ein Treck mit russischen Gefangenen lagerte zu der Zeit für einen Abend auf einer Wiese am Friedhof. Meine Schwester Thea und ich waren hier, um die Gräber zu pflegen. Als wir nun bei der Pumpe waren, kamen die Männer mit ihren Blechdosen und wollten Wasser haben. Wir haben denen natürlich die Dosen vollgemacht, aber es dauert nicht lange, da kamen die Wachposten und vertrieben sie. Man gönnte ihnen nicht einmal Wasser.

Die letzten Tage bevor die Front kam, hat ein deutscher Soldat bei uns Zivilkleidung bekommen, er wollte offensichtlich untertauchen. In dem Moment kam ein sogenannter „Kettenhund“ herein, ein deutscher Soldat, der alle verstreuten Soldaten sammelte und noch wieder eine neue Kampfgruppe bildete. Hätte dieser Idiot den Deserteur erwischt, wäre das wohl böse für ihn ausgegangen. Er war aber gerade noch rechtzeitig weggekommen.

An einem anderen Tag marschierten hunderte von jungen Soldaten bei uns vorbei, alle mit einer Panzerfaust auf dem Rücken. Sie wirkten völlig erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Nebenher lief jeweils ein Offizier, der nichts zu tragen hatte. Diese Typen glaubten immer noch an den Endsieg.

Die letzten Soldaten, die bei uns einquartiert wurden, war eine Flakeinheit. Sie hatten viele Fahrzeuge mit, die bei uns im Schuppen untergestellt wurden. Eine Gulaschkanone wurde bei uns auf dem Hof aufgebaut, ich weiß noch, dass wir uns bei denen auch was zu essen geholt haben. Es hieß, sie hätten vorher ein Lebensmittel-Depot geräumt.

Die letzten Tage bevor die Front kam, hatten wir Sachen in einem Weidestall im Kranenmoor ausgelagert. Eine Vorsichtsmaßnahme, wenn unser Haus mal zerschossen oder geplündert würde beim Einmarsch. Es war ein massiver Stall mit Stroh und Bodenraum, hier wurden die Teile versteckt.

Die letzten Tage vor dem Einmarsch haben wir im Kartoffelkeller geschlafen. Dies war kein Keller, es war ein Raum im Heuschuppen mit massiven Wänden und Decke, wo die Kartoffeln gelagert wurden. Ferner war oben und an den Seiten meterdick Heu gestapelt, somit ein einigermaßen sicherer Raum. Am Freitag kam bei den Soldaten Hektik auf, es wurde alles mobilisiert und nachts ging es Richtung Schale, um aus dem Kessel noch heraus zu kommen. Am Sonntag (Weißer Sonntag) sind nachmittags die ersten englischen Soldaten in Schapen gesehen worden.

In Schapen wurde nicht gekämpft, weil die Engländer einen kleinen Kessel gebildet haben. Sie sind mit ihren Panzern in der Speller Dose, Richtung Schapen, stecken geblieben (Feuchtgebiet). Hierdurch wurde der Vormarsch in Richtung unseres Ortes gestoppt. Was für ein Glück für unser Dorf. Somit haben bei uns in der Gemeinde keine Kämpfe stattgefunden. Die Straße nach Schapen konnte die englische Armee nicht gefahren, weil im Speller Dorf noch gekämpft wurde. Deswegen hat sich die englische Armee aufgeteilt und ist auf der einen Seite über Dreierwalde, Hopsten nach Schale gezogen und auf der anderen Seite über Beesten, Freren nach Schale. Somit konnten die deutschen Einheiten, die sich noch bei ins im Ort befanden, nur durch die Staatsforsten Richtung Schale unser Dorf verlassen. Sie sind in der Nacht von Samstag auf Sonntag den 8.4. 1945 abgezogen. Es war der Weiße Sonntag. Hein, der desertiert hatte, kam an diesem besagten Sonntag zu seiner Familie zurück. Ich denke, es war der erste Heimkehrer in Schapen.

Von Hopsten aus rückten die englischen Panzer auf Schale vor. Die deutschen Truppen setzten sich aus Schapen ab, um nicht umzingelt zu werden

Anfang April war für uns der Krieg zu Ende, von den englischen Soldaten, die bei uns auf dem Hof kamen, bekam ich ein kleines Stückchen Schokolade geschenkt. Wohl die erste, die ich in meinem Leben gegessen habe. Das Leben ging weiter, wie man so schön sagt, die Felder mussten bestellt werden und alle waren froh und dankbar, dass Schapen den Einmarsch ohne jegliche Schäden überstanden hatte.

Am 20.4. 1945, an Hitlers Geburtstag, gingen wir zum Feld, um Kartoffeln zu pflanzen, als uns E.H. mit Sonntagskleidung begegnete. Auf die Frage meines Vaters: „Was feierst Du denn?“ antwortete er: „Hitlers Geburtstag“. Mein Vater antwortete: „Der Spuk ist doch jetzt vorbei“. Aber E.H. sagte: „Hitler wird doch noch sein letztes Wort sprechen“. Er glaubte immer noch an den Endsieg und die Geheimwaffen von Hitler.

Über 90 Soldaten aus Schapen kamen im Zweiten Weltkrieg an allen Fronten Europas ums Leben

Am 8. Mai 1945 war der Krieg zu Ende, Deutschland musste bedingungslos kapitulieren. Allein in Schapen sind 60 Männer gefallen und 31 vermisst, was für ein Opfer.“