Migration, Demographie und Pandemie

Vom Schicksal einer Auswandererfamilie aus Listrup in den USA

Cincinnati am Ohio im Jahre 1841

Migration, Demographie und Pandemie bestimmen derzeit die öffentliche Diskussion. Die Migration schon länger und vor allem seit 2015, die demographische Entwicklung ebenfalls bereits seit ein paar Jahren und die Pandemie ganz überraschend

Cholera-Opfer 1849

seit 2020. Doch Migration, Pandemien und neue demographische Entwicklungen gibt es schon und immer wieder, seit der Homo Sapiens die Welt erobert.

Die neue Krankheit kam aus Asien und war auf den anderen Kontinenten unbekannt. Dann entwickelte sie sich zur Pandemie und erreichte in kurzer Zeit große Teile Asiens, Europa, Afrika und Amerika. Die erste Erkrankung in Deutschland trat 1831 auf, in den USA 1832. Es war nicht Corona, sondern die „asiatische Cholera“, gegen die es damals kein Gegenmittel gab. Nach ein paar Jahren ebbte die Pandemie ab, aber die Krankheit war nicht besiegt und bald folgten neue Wellen.

Ab 1844 traten nach schlechter Witterung und Missernten in vielen Ländern Europas Hungersnöte auf. Es folgten Hungeraufstände und plötzlich war auch die Cholera wieder da. Besonders betroffen waren 1848 England und Wales, ein Jahr später das von einer Hungerkatastrophe geplagte Irland. Irische Auswanderer, die vor den Hungersnöten in die USA flüchteten, brachten die Krankheit an den Mississippi, wo 1849 allein in St. Louis 4.500 Menschen an der Cholera starben. Auch in New York gab es tausende Todesopfer, vor allem unter den irischen Einwanderern.

Um der Not in der Heimat zu entfliehen, machten sich Mitte der 1840er-Jahre zahlreiche deutsche Auswanderer auf den Weg in die USA, darunter auch viele Emsländer. Anfangs waren es vor allem Menschen aus den verarmten Unterschichten, die von einem besseren Leben in Amerika träumten. 1848 folgten ihnen die „48-er“, so nannte man die Aktivisten der deutschen Revolution von 1848, die vor staatlicher Verfolgung in die Neue Welt flüchteten.

Der Not in der Heimat gehorchend machte sich 1848 der Listruper Bauernsohn Gerhard Hermann Heuking, Jahrgang 1825, auf den Weg nach Amerika. Begleitet wurde er von seiner Braut, der Heuermannstochter Susanna Maria Votel aus Drievorden. Im Sommer trafen die beiden in den USA ein und reisten direkt nach Cincinnetti, einer großen Stadt im Süden von Ohio, in der sich damals zahlreiche Einwanderer aus dem Emsland niederließen. Bald darauf wechselte Heuking auf die gegenüberliegende Seite des Ohio River in die Stadt Covington im Staat Kentucky. Dort heirateten das Paar am Weihnachtsfest 1850. Heuking schickte aus den USA zahlreiche Briefe an seine Eltern und Geschwister in der Heimat, die das weitere Schicksal der Familie dokumentieren.

Sein jüngerer Bruder in Listrup, Bernhard Heinrich Heuking, Jahrgang 1829, hatte ein Mädchen aus Listrup geschwängert, eine Heuerlingstochter. So ein Verhalten galt nicht nur als schändlich, sondern Heuking hatte als nachgeborener Bauernsohn auch keine Existenzgrundlage für eine Familie. So entschloss er sich, gemeinsam mit seiner Partnerin zu seinem Bruder in die USA auszuwandern. Kurz nach der Geburt des Kindes gingen sie in Bremen an Bord und kamen im Juni 1849 in Amerika an. Sie reisten direkt nach Covington zu seinem Bruder und heirateten dort sofort bei ihrer Ankunft am 1. Juli 1849.

Vorsichtsmaßnahmen gegen die Cholera in den USA 1849

Der Zeitpunkt für die Reise hätte nicht unglücklicher sein können, denn mittlerweile hatte die Cholera-Pandemie von 1849 den Mittleren Westen erreicht. Gerhard Hermann Heuking schreibt im Juli 1849 aus Covington, dass die Cholera in der Stadt ausgebrochen sei: „Massen von Menschen sterben an einem Tage. Da die Toten hier einzeln zu Grabe getragen werden, so haben die Leichenwagenbesitzer größten Verdienst… Es werden alle Sorten Wagen gebraucht, um die Toten wegzuschaffen… Hier geht keiner [zu Fuß] zum Kirchhof. Alle Begräbnisteilnehmer werden mit Kutschen dahin und wieder zurückgebracht… J.B. Bültel hat zu mir gesagt, seiner Eltern Begräbnis hätten ihm an die fünfzig Dollar gekostet…

Es ist jetzt eine schlechte Zeit. Viele Fabriken sind geschlossen, andere Arbeiten werden sehr langsam ausgeführt. Der Schrecken über die Cholera läßt viele junge Leute müßig gehen und die plötzlichen Todesfälle erschrecken alle in der Umgebung Cincinnatis. Wir leben heute alle in guter Gesundheit, ob wir aber über acht Stunden noch leben werden? … Sagt dem J.B. Gausing [in Listrup], welcher, als ich noch in der Heimat war, vortreffliche Mittel gegen die Cholera vorschlug, er wolle eiligst herüberkommen und die Leute aus der großen Todesgefahr erretten. Er wird hier schnell mit dem Doktern reich werden können.

Anne Maria Bültel, wie Ihr vielleicht schon wißt, ist auch vor etwa vierzehn Tagen gestorben. Ich bin in ihrem Haus gewesen und habe sie als Tote gesehen. Sie war schwarz im Gesicht von der achtstündigen Krankheit und etwas unkenntlich geworden. Wenn sie des Morgens sterben, werden sie nachmittags beerdigt – daß sie sie nur wegkriegen.“

Am 1. August 1849 schreibt Heuking:

„Ihr habt aus dem vorherigen Brief, welchen ich bei meines Bruders Ankunft zu Euch gesandt habe, ersehen, in welch gefahrvoller Zeit wir hier in Amerika leben… Rund um unser Haus herum mußten wir sehen, daß die pestartige Cholera unsere Bekannten und Nachbarn hinwegraffte… Ich bin bei mehreren von dieser Seuche überraschten Sterbenden gewesen… Es ist ein herzzerreißender Anblick. Sogar die Geduldigsten jammern laut vor bitteren Schmerzen. Die Krankheit nimmt den Anfang mit Erbrechen und Durchfall. Darauf folgen bittere Schmerzen in den Eingeweiden und schreckliche Krämpfe. Finger und Zehen werden krumm zusammengezogen, und binnen sechs bis acht Stunden sind sie tot. Wir beteten täglich zu Gott, er möge diesen Leidenkelch von uns nehmen, und wir glaubten uns schon uns davon befreit, weil die Seuche größtenteils abgeklungen war – aber vergebens.“

Am 24. Juli, sechs Wochen nach ihrer Ankunft in den USA und keine vier Wochen nach der Hochzeit, stirbt Gesina Heuking, geborene Borgel, an der Cholera. Wenige Tage später verstirbt auch ihr kleines Kind an der gleichen Krankheit.

Gerhard Hermann Heuking schreibt damals an seinen Bruder in Listrup:

„Lieber Bruder Johann Gerhard. Solltest Du auf den Gedanken kommen, hierher zu reisen, dann schlage ihn Dir geschwind aus dem Sinn! Traue Amerika nicht. Es kommen auch viele Lügen von hierher… Es hat mich diesen Sommer hier sehr verdrossen, denn es hieß immer: dieser ist tot, und jener ist tot… Es heißt, daß es nächsten Sommer noch schlimmer werden soll. Es ist aber durchweg der Fall, wenn die Leute es schlimmer machen, dann wird es gewöhnlich besser. Es muß besser werden den zukünftigen Sommer, sonst bleiben keine übrig!“

Zu Weihnachten 1849 berichtet Heuking nach Listrup, die Choleraepidemie sei jetzt Vergangenheit, aber die Pocken seien im Anmarsch. Ein Jahr später heiratet Gerhard Heinrich Heuking seine Braut Susanna Maria Votel, die eine Anstellung als Hausmädchen gefunden hat. Er bittet seinen Vater in Listrup um finanzielle Unterstützung, weil er viele Anschaffungen für den Haushalt hat.

Im Frühjahr 1851 schreibt sein Bruder Bernhard Heinrich den Eltern über eine schwere Krankheit seines Bruders, der mittlerweile Vater geworden ist, und mit einem Brief vom 22. Juni 1851 trifft in Listrup die Nachricht ein, dass Gerhard Hermann Heuking am 19. Juni an der Schwindsucht verstorben sei. Der jungen Witwe und dem kleinen Kind gehe es gut, sie habe einen Bruder in den USA.

Bernhard Heinrich bemerkt:

„Er ist uns vorangegangen ins Meer der Ewigkeit, und nur durch unser Gebet können wir ihm zur Hilfe kommen… Auch wir wissen nicht, wie lange unsere Lebenszeit noch dauern wird, zumal die Cholera wieder im Anmarsch ist, aber nicht so schlimm wie vor zwei Jahren.“

Im Sommer 1852 schreibt Bernhard Heinrich Heuking nach Listrup, dass er Cincinnatti verlassen habe und nach Iowa zu einem Bekannten aus Emsbüren namens Roling gegangen sei. Er habe dort eine Anstellung in einem Bleibergwerk gefunden, aber die Arbeit sei ihm zu gefährlich gewesen. Er habe dann einen Bekannten aus Schüttorf namens Hanfeld getroffen und sei mit ihm nach Minnesota gegangen, wo sie zum ersten Mal auf Indianer trafen. Doch die Winter dort seinen hart und im Mai seien sie deshalb mit einem Postschiff auf dem Mississippi nach Süden bis St. Louis gereist. Heuking selber sei dort an der Ruhr erkrankt und habe drei Wochen krank gelegen. Dann sei er mit seinem Kameraden weiter nach New Orleans gezogen. Dort hätten sie zahlreiche Bekannte aus Emsbüren getroffen, diese seien zu Weihnachten nach Cincinnatti weitergereist. Heuking und sein Kamerad seinen in New Orleans am Gelbfieber erkrankt. Hanfeld sei daran gestorben, Heuking aber nach acht Tagen wieder gesund geworden.

Heuking wollte, so berichtet er in seinem Brief, eigentlich nicht in dieser Stadt bleiben, fand aber eine gut bezahlte Stelle als Gasmann, denn in New Orleans gibt es damals schon eine Straßenbeleuchtung. Die Arbeit ist leicht und die Bezahlung nicht schlecht. Er teilt seinen Eltern mit, dass er selber kein Geld mehr von ihnen brauche und er sein Erbteil seiner Schwägerin in den USA und deren Kind überlasse.

Zum letzten Mal schreibt Heuking am 1. Oktober 1854 aus San Francisco in die Heimat. Er berichtet von einem Aufenthalt in New York. Die Reise von dort nach Kalifornien sei ziemlich teuer gewesen, denn die Entfernung sei größer als von New York nach Listrup. Er lebe dort in der Wildnis und grabe nach Gold. Bald wolle er mehr schreiben.

Dieser Brief ist das letzte Lebenszeichen von Bernhard Heinrich Heuking, der seitdem verschollen ist. Der Tod beider Söhne in den USA ist wahrscheinlich der Grund, warum ihre Briefe auf dem elterlichen Hof über viele Generationen verwahrt wurden. Es waren Erinnerungsstücke an zwei Söhne, die in die Fremde zogen, dort kein Glück fanden und die man nie mehr wiedersah.

Quelle: Hans-Peter Tewes (Hrsg.): 1100 Jahre Listrup 890-1990 – Ein Dorf an der Ems. Werlte 1990, S. 328-343.