1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Gedanken zu einem Festjahr

Vor 1700 Jahren wurde zum ersten Mal eine jüdische Gemeinde in Deutschland erwähnt

1700 Jahre Juden in Deutschland – ein denkwürdiges Jubiläum. Es hat etwas paradoxes, doch das schadet nicht. Warum paradox? Vor 1700 Jahren gab es zwar

zweifellos schon Juden, aber noch keine Deutschen und kein Deutschland. Es gab vielleicht Germanen – jedenfalls gab es Leute, die von anderen als solche bezeichnet wurden. Aber das waren keine Deutschen und schon gar keine Christen. Zu sagen hatten sie auch nichts, denn große Teile des heutigen Deutschlands waren damals eine römische Provinz. Darum war es auch der römische Kaiser Konstantin, der im Jahr 321 in einem Schreiben zum ersten Mal eine jüdische Gemeinde in Köln erwähnt, einer Stadt, die bekanntlich von den Römern gegründet wurde.

Gewaltige Dimensionen im Mittelalter: Die alte Synagoge in Erfurt (heute ein Museum)

Im Germanien außerhalb des römischen Reiches gab es damals keine festen Straßen, keine steinernen Gebäude und keine Städte. Wahrscheinlich gab es hier auch keine Juden. Die kamen dorthin vermutlich erst im Mittelalter hierher, als aus Germanien Deutschland wurde. Und welch große Bedeutung die Juden für die damalige Entwicklung Deutschlands hatten, sieht man am besten in der alten Synagoge in Erfurt, die übrigens erst vor ein paar Jahren als historisches Gebäude in einem vielfach umgebauten Lagerhauskomplex in der Altstadt entdeckt wurde.Ihr Ende als Gotteshaus brachten die Pogrome zur Zeit der Pestempidemien im 14. Jahrhundert – irgendjemand musste ja Schuld daran sein.

Eine ähnlich beschämende Stätte christlicher Kultur ist die Neupfarrkirche in der Altstadt von Regensburg. Dort beschloss der Rat im Jahr 1519 angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage der freien Reichsstadt die Vertreibung der Juden. Die Regensburger folgten einem im mittelalterlichen Europa weit verbreiteten Muster: sie brachen die Synagoge ab und bauten an gleicher Stelle eine prächtige Marienkirche. Christliche Frömmigkeit im Mittelalter.

Im Emsland gab es um diese Zeit noch keine Juden. Was hätten sie hier auch gesollt? Erst im späten 17. Jahrhundert ließ sich eine jüdische Familie mit einem Geleitbrief in Lingen nieder. Weitere Familien kamen hinzu und schließlich bildete sich eine kleine jüdische Gemeinde, die bis 1938 existierte. Damals brauchte man nicht die Pest als Anlass – nach 600 Jahren ging Antisemitismus in Deutschland offenbar noch einfacher als im Mittelalter.

Abteilung „Jüdische Geschichte und Kultur“ im Emslandmuseum (1992-2020), demnächst in neuem Design

Mein liebstes Stück jüdischer Kultur im Emslandmuseum? Es sind so viele interessante Stücke, die von 400 Jahren jüdischem Leben in Lingen und dem Emsland Zeugnis geben. Und jedes Stück hat seine eigene, manchmal rührende, häufig auch tragische Geschichte.

Die ersten jüdischen Stücke, die ich 1988 in Lingen entdeckte, war zwei Sabbatlampen aus dem 18. Jahrhundert. Sie hingen als Flurbeleuchtung bei zwei alten Damen im Strootgebiet. Eine der beiden war früher Haushälterin bei dem Lingener Kunstsammler, Carl Johannsen, gewesen. Sie hatte die beiden Lampen nach seinem Tod unerkannt geerbt und nichtsahnend als Flurleuchten eingebaut. Sollte der gute alte Carl Johannsen 1938 etwa… – hat er nicht! Denn schon 10 Jahre vorher, bei der Heimatschau der Kivelinge 1928, waren seine beiden „siebenstrahligen Schabbeslampen“ zum 650sten Stadtjubiläum als Zeugnisse der Lingener Geschichte ausgestellt. Ob sie bei der Wiederholung dieser Schau 1937 auch noch ausgestellt waren?

Besomimdose für die Sabbatfeier, aus einer jüdischen Familie in Lingen

An dunkle Zeiten erinnert eine silberne jüdische Gewürzdose im Museum. Wir erhielten sie 1989 von einem früheren Lingener Arzt. Einer seiner Patienten hatte seine Arztrechnung damit bezahlt. Später hat ein anderer Patient dem Arzt erzählt, dass er diesen Mann am Abend des 9. November 1938 mit einem Handwagen voller Wertsachen aus den geplünderten jüdischen Haushalten nach Hause fahren sah.

Später kam einmal eine Lehrerin mit einer Schulklasse in die jüdische Schule. Sie sah dort eine ähnliche Silberdose und fragte ahnungslos, was das denn wohl sei, so etwas habe sie nämlich auch zuhause, ebenfalls aus Silber, von ihren Eltern geerbt. Aber die waren keine Juden. Auch nicht heimlich. Bei Nachfrage stellt sich nämlich heraus: die Lehrerin war die Tochter jenes Mannes mit dem Handwagen.

Eine unübersehbare Fülle von bäulichen Antiquitäten aus der Region Osnabrücker Land/Emsalnd im Hause Süßkind in Fürstenau, vor 1938. Originalfoto Bernhard Süßkind, New York

Apropos Wertsachen. Haben Sie schon einmal von Bernhard Süsskind gehört? Er kam aus Fürstenau und musste 1938 in die USA flüchten. Vor etlichen Jahren habe ich ihn einmal kennengelernt. Wir verstanden uns gut und im Laufe eines langen Abends erzählte er mir von den vielen Antiquitäten in seinem Elternhaus in Fürstenau. Davon habe er sogar noch eine alte Aufnahme. Später schickte er aus New York eine Reproduktion dieses Fotos. Es zeigt nicht etwa jüdische Altertümer, sondern bäuerliche Antiquitäten aus dem Osnabrücker Land und dem Emsland. Auf den ersten Blick könnte man die Szene in der Diele des Hauses Süsskind in Fürstenau für eine Ausstellung im Kutscherhaus halten. Bernhard Süsskind und seine Eltern waren Juden, aber ihre Heimat war das Osnabrücker Land, durch und durch.

Gedicht „Seder“ von Helga Hanauer in der Lingener Kulturzeitschrift ANALLE, Nr. 1, 1977

Lingen war bekanntlich die Heimat der Familie Hanauer. Es gab bis 1938 etliche Zweige dieser Familie in der Stadt. Aber nur einer kehrte nach 1945 zurück: Gustav Hanauer mit seinen Töchtern Helga und Carla. Das muss man sich einmal vorstellen: die ganze jüdische Gemeinde wird ausgelöscht, die halbe Verwandtschaft wird ermordet, er selber muss sich mit seiner Familie jahrelang im besetzten Holland vor den Deutschen verstecken und dann kehrt er nach dem Krieg nach Lingen zurück. Irgendwie beeindruckt mich das. Ich hätte das niemals können.

Aus einem Gedichtbändchen von Helga Hanauer

Eine seiner Töchter ging später zu den Verwandten nach Amerika, die andere ist 1976 in Lingen gestorben. Sie schrieb Gedichte. Einige habe ich zufällig mal in einer Zeitschrift entdeckt und zwei kleine Bändchen mit Gedichten bekam das Museum in den letzten Jahren von früheren Bekannten von Helga Hanauer geschenkt. In welche Rubrik fallen die jetzt eigentlich? Sind das jüdische Gedichte? Oder ist das nicht deutsche Literatur? War Helga Hanauer eine „heimische Autorin“ oder ist das nicht gar „Heimatliteratur“?

Grußkarte mit jüdischen Motiven

Und ganz am Ende sind da noch die vielen Grußkarten und Geschenke von Rilana Ben David, geborene Bartels aus Lingen. Sie stammt aus einer alten emsländischen Familie und lernte als Studentin einen amerikanischen Juden kennen. Sie trat zum Judentum über und lebt mit ihrer Familie in Philadelphia. Regelmäßig schickt sie dem Museum über ihre Eltern in Lingen Kalender, Programme und Fotos aus dem Leben in ihrer jüdischen Gemeinde Beth Solomon. Auch jüdische Kunst wird dort großgeschrieben. Viele Motive sind auch in Deutschland bekannt: die Geschichten von Noah oder von Jonas und dem Walfisch, die Psalmen und die 10 Gebote, der Friedensgruß. Kein Wunder – das Alte Testament gilt bei Juden wie Christen gleichermaßen. Es heißt nur anders.

Kindergarten im jüdischen Zentrum Beth Solomon in Philadelphia (USA)

In Rilanas Gemeinde in Philadelphia gibt es einen jüdischen Kindergarten, eine jüdische Schule und einen jüdischen Sportverein. Ihr Sohn Aviad macht Musik in einer jüdischen Schülerband und ihr Sohn Aaron feierte 2019 seine Bar Mitzva. In Lingen wäre er jetzt im Kivelingsalter. Dort gab es bis 1934 eine ganze Reihe jüdische Kivelinge.

Viele Mitglieder in Rilanas Gemeinde sind junge Familien mit Kindern, das Gemeindeleben ist jung und bunt. Dort findet Judentum nicht an Gedenkstätten und in Museen statt, sondern ist quicklebendig. So oder so ähnlich, denke ich manchmal, würde jüdisches Leben in Lingen heute vermutlich auch aussehen.