Kriegsende im Lingener Krankenhaus

Paul Germer berichtet

Das Lingener Krankenhaus vor dem Zweiten Weltkrieg (Ansichtskartensammlung Emslandmuseum Lingen)

Paul Germer (1926-2019) will sich nach dem Kampf um die Brücke von Remagen als Schwerverletzter in seinen Heimatort Wietmarschen durchschlagen. Als er am Bahnhof in Lingen ankommt, ist der Weg dorthin durch die herannahende Front schon abgeschnitten. So beschließt er, sich in das Lingener Krankenhaus zu begeben.

Dort erlebt er aus unmittelbarer Nähe den Häuserkampf in der Lingener Innenstadt, die Einlieferung von immer mehr schwer verwundeten Soldaten in das von Strom und Wasser abgeschnittene Krankenhaus. Viele Sterben an ihren Verletzungen und durch den Beschuss, der auch am Bonifatius-Hospital nicht spurlos vorübergeht. Über seine Erlebnisse beim Kriegsende in Lingen berichtete Paul Germer im Jahr 1994 in einem Interview mit Dr. Andreas Eiynck:

Paul Germer im Jahr 2012 in seiner Baumschule in Füchtenfeld (Foto: Use-Magazin, Susanne Austrup)

„Ich war damals gerade 18 Jahre alt. Im März 1945 kam ich als Wehrpflichtiger zur Ausbildung nach Dänemark und wurde mit der „Kampfgruppe Dänemark“ Anfang März an den Brückenkopf von Remagen abkommandiert. Dort gerieten wir unter stärksten Artilleriebeschuss der Amerikaner und ich wurde durch einen Granatsplitter am Rücken verwundet. Trotz meiner Verwundung machte ich mich auf den Weg in mein Heimatlazarett.

Mit der Eisenbahn gelangte ich über Hessen und dann weiter über Hannover-Osnabrück-Rheine bis Lingen. Die Brückenwache an der Schepsdorfer Brücke ließ mich aber nicht mehr in Richtung Wietmarschen durch und so ging ich in das Lingener Krankenhaus.

Das Krankenhaus war zu diesem Zeitpunkt bereits mit einem Lazarettzug in Richtung Meppen-Oldenburg geräumt worden und diente jetzt als Feldlazarett. Einige Schwestern und ein Oberarzt, Dr. Bergmann, machten dort noch Dienst für etwa 30 Verwundete.

Ich lag mit 6 Mann in einem Zimmer im Obergeschoss, mit Blick auf die reformierte Kirche. Drei der Verwundeten lagen im Streckverband und konnten nicht bewegt werden. In einem kleinen Nebenzimmer lagen noch zwei oder drei deutsche Offiziere, ebenfalls nicht transportfähig.

Am zweiten Tag hörte man im Krankenhaus zwei Detonationen: die Sprengung der Ems- und der Kanalbrücke. Anschließend geriet die Innenstadt unter Beschuss und allein das Krankenhaus erhielt etwa ein Dutzend Treffer. Nun hieß es: „Rette sich, wer kann!“ und alle irgendwie transportfähigen schleppten sich hinunter in den Keller. Die übrigen mussten oben auf den Zimmern bleiben.

Der Innenhof des Lingener Krankenkenhauses (Ansichtskartensammlung Emslandmuseum Lingen)

Von der Treppe an der Gymnasialstraße führte ein Eingang in den Keller. In dessen Verlängerung hatten die Schwestern Gartenbänke aufgestellt, auf denen die Kranken notdürftig untergebracht wurden. Dr. Bergmann war plötzlich verschwunden. Eine der Schwestern hatte noch ein funktionsfähiges Radiogerät und auf dem deutschen Sender wurde durchgegeben: „schwere Straßenkämpfe in Lingen“.

Am zweiten Tag ging die Schwester früh morgens in die Krankenzimmer, um die Führerbilder abzunehmen. Dabei stieß sie im Offizierszimmer auf heftigen Protest. Einer der verwundeten Soldaten nahm schließlich seine Krücke, zerstieß das Bild und drohte sogar dem Offizier mit Prügel.

Der Lingener Arzt Dr. Bergmann (links) war bis zum Durchzug der Front im Lingener Krankenhaus tätig und kam dann in englische Kriegsgefangenschaft

Es wurden auch ständig noch weitere Verwundete eingeliefert. Die meisten hatten schwere Brandverletzungen, die sie sich bei Straßenkämpfen an der Neuen Straße bei der Schmiede van Lengerich durch englische Flammenwerfer zugezogen hatten. Mit den durchziehenden Truppen kam ein Unterarzt in das Krankenhaus, der die Verwundeten notdürftig versorgte.

Plötzlich stürmte ein Mann in den Keller und rannte durch bis in den Krankenhaus-Innenhof. Ihm folgten englische Soldaten, die den Mann erschossen und das Krankenhaus besetzten. Bald folgten englische Ärzte, die gemeinsam mit dem deutschen Unterarzt weitere Verwundete versorgten – Deutsche und Engländer durcheinander, immer nach der Reihenfolge.

Die bettlägerigen Soldaten auf den oberen Zimmern hatten die Kampfhandlungen alle glücklich überstanden, obwohl einige Betten und Matratzen von Splittern zerfetzt waren. Die Kranken wurden von den Engländern gut versorgt.

Nach einigen Tagen wurden die Soldaten aus dem Krankenhaus verlegt. Über die schwer mit Vierlingsgeschützen gesicherte Wachendorfer Brücke ging es nach Schepsdorf. Dort konnte man die riesigen Mengen englischen Kriegsmaterials sehen, die sich vor der Emsbrücke stauten. Weiter ging es über Nordlohne nach Deurningen in ein Kloster, das nun als Gefangenenlazarett diente.

Viele Gefangene starben dort an ihren schweren Verwundungen und Krankheiten. Sie wurden auf dem Klosterfriedhof beerdigt. Bei einer solchen Beerdigung hielt einer der Offiziere noch eine flammende Rede auf Großdeutschland, die allerdings von den Mitgefangenen abrupt beendet wurde.“

Paul Germer kurz vor seinen Tod 2017 bei einem Besuch in „seinem“ Stifts- und Wallfahrtsmuseum in Wietmarschen