Hinter jedem Stein ein Schicksal

Kriegsgräber erzählen Geschichte(n)

Der Aufgang zur den Kriegsgräbern auf dem Neuen Friedhof in Lingen 2020

Bei den Kämpfen um Lingen im April 1945 fanden über 100 deutsche Soldaten und 27 Zivilisten den Tod. Auch viele englische Soldaten kamen damals ums Leben. Das ganze Drama der Kämpfe um Lingen offenbart sich bei einem Spaziergang über das eindrucksvolle Kriegsgräberfeld auf dem Neuen Friedhof. Außerdem befinden sich dort noch zwei separate Grabanlagen für ausländische Soldaten und Kriegsgefangenen, die im Emsland starben und in Lingen begraben wurden. Ein großer Friedhof für Kriegstote befindet sich außerdem in Thuine, wo Kloster und Krankenhaus während des Krieges als Lazarett für Kriegsgefangene eingerichtet wurden.

Der „Heldenfriedhof“ auf dem Neuen Friedhof in den 40er-Jahren

Der deutsche Soldatenfriedhof auf dem Neuen Friedhof wurde bereits während des Krieges als „Heldenfriedhof“ für Wehrmachtssoldaten in rundlicher Form angelegt und später erweitert zu einem langgestreckten Gräberfeld entlang eines Weges, der auf ein großes Kreuz zuführt. Alle Gräber sind gleich gestaltet, unabhängig von Rang und Stand. Die dort begrabenen Soldaten stammen nicht aus Lingen, sondern aus allen Teilen des damaligen Deutschen Reiches. Ihre Hinterbliebenen verbinden den Ort Lingen mit dem Tod eines Angehörigen im Frühjahr 1945, der als Ehemann, Bruder, Sohn oder Vater dort noch kurz vor Ende des Krieges in einem völlig sinnlosen Einsatz ums Leben kam.

Das Kriegsgräberfeld auf dem Neuen Friedhof erhielt 1956 seine heutige Gestaltung

Unter den deutschen Soldaten waren viele junge Rekruten, die ihre militärische Ausbildung noch nicht einmal beendet hatten. Unerfahren und nur unzureichend bewaffnet wurden sie in einen aussichtlosen Einsatz geschickt und kamen dabei in großer Zahl ums Leben. Während der tagelangen Kämpfe gab es in vielen Fällen keine Möglichkeit, die getöteten Soldaten zu bergen und zu beerdigen. Viele wurden zunächst an Ort und Stelle behelfsmäßig in einem Notgrab bestattet.

Der Grabstein für den Jugendlichen Karl Heinz Heßler

Auf seinem Pachtland Auf der Loos kurz vor dem Lingener Wald fand Gerhard Wekenborg nach dem Durchzug der Front einen getöteten jungen deutschen Soldaten. Da Hilfe wegen der verworrenen Lage nicht zu erreichen war, beerdigte er die Leiche provisorisch im Garten. Der Tote, Karl-Heinz Heßler, war ein noch nicht einmal 18 Jahre alter Jugendlicher aus dem Ruhrgebiet. Er wurde beim Rückzug der deutschen Truppen in die Wälder südöstlich der Stadt am 4. April 1945 tödlich getroffen. Sein Soldatengrab fand er später auf dem Neuen Friedhof.

Der Totenzettel für den in Lingen gestorbenen jungen Soldaten

Gerhard Wekenborg erinnert sich noch, dass sein Vater damals Kontakt zur Familie des Jungen aufnahm. Jedes Jahr zum Volkstrauertag reisten die Angehörigen nach Lingen an und kamen zum Kaffeetrinken zur Familie Wekenborg. Sie konnten den sinnlosen Tod ihres Sohnes noch kurz vor Ende des Krieges nie begreifen. Karl-Heinz Heßler war bei Kriegsende eigentlich noch Schüler und besuchte das Gymnasium. Er wollte später Arzt werden. Doch er wurde mit einem Notabitur von der Schule zur Wehrmacht entlassen und direkt in den Kampfeinsatz in Lingen geschickt. Dort ereilte ihn wie zahlreiche gleichaltrige Kameraden der Soldatentod.

Seine Ruhestätte fand der Familienvater und Hauptmann Artur Heimann auf dem Kriegsgräberfeld des Neuen Friedhofs

Auch die Familie Fritze macht Anfang April 1945 eine grausige Entdeckung. Ihr Haus an der Johannes-Meyer-Straße war beim Luftangriff im Februar 1944 zerstört worden und die Familie zog in eine Ersatzwohnung in die Neue Straße. Dort entdeckte sie nach dem Einmarsch der Engländer im hinteren Teil des Gartens ein provisorisches Soldatengrab. Bernhard Fritze erinnert sich: „Die Spitze des Stiefels schaute noch aus der Erde heraus“. Sein Vater machte eine Meldung. Die Leiche wurde untersucht und auf den Neuen Friedhof umgebettet. Der Tote war der 32jährige Hauptmann Artur Heimann, der während der heftigen Häuserkämpfe in der Lingener Innenstadt am 4. April tödlich getroffen wurde. Fritze nahmen Kontakt zur Witwe des Hauptmanns auf und erhielten ein ergreifendes Antwortschreiben. Heimann hatte zwei kleine Töchter, die ihren Vater kaum gekannt haben. Immer wieder besuchten die Angehörigen das Grab in Lingen.

Auch heute, 75 Jahre nach den Kämpfen um Lingen, kann man an manchen Soldatengräbern auf dem Neuen Friedhof noch frische Blumen und Kerzen sehen. Doch die meisten Angehörigen sind längst verstorben und allmählich verblasst die Erinnerung. Wie lange wird man sich an die Toten noch erinnern? Wie lange werden die Opfer von Krieg und Gewalt noch mahnen?