8. Mai 1945 – das Kriegsende vor 75 Jahren

Schwester Salomona aus dem Lingener Krankenhaus berichtet über die Kriegsjahre, das Kriegsende und die Nachkriegszeit

Kriegsgräberfeld auf dem Neuen Friedhof in Lingen
(Foto: Bildarchiv Emslandmuseum Lingen, Sammlung Hartmut Oosthuys)

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Über 60 Millionen Menschen wurden in diesem Krieg gewaltsam getötet. Er brachte Europa und anderen Erdteilen Not und Elend. Am 28. Februar, zehn Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und ein Jahr nach den schweren Kämpfen um Lingen, blickte

Das Lingener Krankenhaus 1944, im Vordergrund die Splitterschutzmauer vor den Fenstern im Kellergeschoss

Schwester Salomona, die Oberin der Ordensschwestern im Lingener Krankenhaus, auf die Kriegsjahre, das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit zurück. Ein sehr subjektiver Bericht einer Ordensfrau und dadurch ein eindrucksvolles Dokument aus schwerer Zeit.

„Sechs Jahre unseres Lebens standen in dem großen Krieg. Er schrieb seine Gesetze und stellte sie über einen jeden Tag, eines jeden Lebens. Wieviel Erregung brachte er, wieviel Spannung und Hoffen und Bangen, aber auch viel stille Stunden, in deren schwerer Ruhe manches klar werden sollte. … Es war eine schwere, bewegte und spannungsreiche Zeit. Opfer und Mühen, Leid und Sorgen, doch trotz Schatten Licht, trotz Gram Freude, trotz Regen Sonne. Es war nicht immer leicht, im Auf- und Niedergang zu allem „Ja“ sagen zu können. Doch der Allmächtige gab uns den reichsten Segen und verlieh uns die göttliche Kraft, daß wir den Mut fanden, aus allen Wirrnissen, aus all dem Chaos einen neuen Weg zu finden, der uns bereitfand zu einem Aufbau.

Schon acht Tage vor Kriegsanfang rüsteten wir. Unser Krankenhaus mußte zum Teil Lazarett werden. 60 Betten für chirurgische Fälle, versorgt von drei Krankenschwestern, stellten wir zur Verfügung. Der 2. und 3.9. 1939 fand uns bereit. Im gleichen Moment noch erfolgte die Einrichtung von drei Teillazaretten, in der Gewerbeschule für innere Fälle mit drei Krankenschwestern, der Hindenburgschule für Haut- und Geschlechtskranke, des Teillazaretts (Gefängnis) für chirurgische Fälle, belegt mit Kriegsgefangenen. Tagelang arbeiteten und ordneten unsere Schwestern. Tausend Dinge waren zu überlegen und zu berücksichtigen. In fliegender Eile galt es alles einzurichten, zum am 3.9. 1939 die Sirene den ersten Fliegeralarm heulte, und man einem drohenden, ungewißen Dunkel entgegenschaute. Und dennoch zog sich das Einrücken der verwundeten Soldaten in unsere frisch und sauber eingerichteten Lazarette noch Monate hin, sodaß man schon an eine schnelle Beendigung des gerade angefangenen Krieges glauben durfte.

Das Lingener Krankenhaus um 1940, noch ohne die Splitterschutzwände vor den Kellerfenstern

Da erfolgte der Einmarsch der deutschen Truppen in Holland am 10.5. 1940, und am gleichen Tage vormittags erreichten uns die ersten deutschen Verwundeten von der deutsch-holländischen Grenze. Nachmittags lieferte man uns die ersten Verwundeten, über Rotterdam angeschossene Flieger, ein.

Alle Hände regten sich, um zu heilen, um zu helfen und in echtem Vaterlandsgefühl umsorgten wir unsere Soldaten. Und von dann an wurden unsere Lazarette nicht mehr leer bis zum heutigen Tage. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, Kranken- und Verwundetentransporte fuhren den ganzen Tag. Verwundete aus allen Frontgebieten waren in unserer Pflege. Jedermann kann nur ahnen, was alles an Elend und Grauen vor unsere Augen kam. Ob Fliegerbeschuß, ob bombenverletzt, ob durch Granatsplitter oder Artilleriebeschuß, alles das gleiche Bild. Schwestern und Ärzte kamen oft tage- und stundenlang nicht aus ihren Kleidern. Mit der Zeit herrschte jedoch bald eine stramme militärische Verwaltung und alles verlief in geregelten Bahnen. Immer wieder neue Sorgen hatte natürlich die Küchenschwester bei ständiger Zunahme der Lebensmittelbeschränkung. Dabei galt es, täglich für viele hunderte Menschen zu kochen, immer wieder aber war der Teller gefüllt mit guten Gerichten.

Im Juli 1940 nach dem Frankreich-Feldzug wurde die Hüttenplatzschule für innere Krankheiten, belegt mit Kriegsgefangenen, eingerichtet. Weniger schön und sehr aufregend war 1940 die Aussicht, daß im Krankenhause eine Krankenpflegeschule der N.S.-Schwestern eingerichtet werden sollte. Die Gesichter unserer Schwestern schauten sorgenvoll: sollen wir noch aus unserem Haus vertrieben werden? Tagelang schwebte dieses stehts zu fallende Beil über unseren Köpfen. Aber es wurde abgenommen und fortgelegt: wir blieben, und zwar unter uns.

Die Rückseite des Lingener Krankenhauses, links zwei Soldaten aus der Lazarettabteilung des Krankenhauses

1941 und 1942 verliefen wie das Jahr 1940, allerdings mit weiderholten Fliegeralarmen, denen wir zwar keine große Bedeutung beimaßen, für die wir jedoch immer die gleichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen hatten, das heißt also: alle bettlägerigen Kranken mußten mit den Betten in den Keller bzw. in den 1. Stock gefahren werden, um dort relativ Schutz zu suchen, die Keller lagen aber nur 50 cm in der Erde, uns somit konnte von einer Sicherheit wohl kaum die Rede sein, zumal die gesamten Heizungs- und Wasserrohre durch den Keller laufen und diese weder abgestützt noch ausgebaut waren. So galt es dann immer noch die aufgeregten Kranken beim Dröhnen und Heulen der vorüberfliegenden Bomber zu beruhigen, die allerdings 1941 und 1942 wirklich vorüberflogen, um dann in den Jahren 1943 bis 1945 insgesamt 11 Fliegerangriffe auf das Stadtgebiet von Lingen machten. Schwerste Bombenangriffe waren am 21.2. 1944 mit 41 Toten, 82 Verletzten, und am 21.11. 1944 mit 14 Toten und 20 Verletzten. Nur diejenigen, die diese Minuten des Grauens eines Luftangriffes mitmachten, können sich wirklich vorstellen, wie ungeheuer die Not und das Entsetzen waren, wie nachhaltig und anhaltend die Wirkung, und wie unübersehbar die Katastrophe in ihrem vollen Ausmasse war. Wie ein Wunder wurde das Krankenhaus vor Bombenabwürfen verschont, aber dafür sah es die verheerenden Wirkungen an den Menschenleben. Die Operationssäle waren tagelang ein Blutbad. Ein Verletzter nach dem anderen wurde auf den Tisch gelegt, um die erste und notwendigste Hilfe angelegt zu bekommen.

Langsam und schwer verging ein Jahr nach dem anderen. In jedem neuanbrechenden harrten wir voller Hoffnung auf den Frieden, nein, auf das Aufhören des gräßlichen Mordens, der gräßlichen Vernichtung, der ständigen Not und des großen Leids. Die Arbeit wurde oft zu viel, die Lebensmittel gering, die Schwierigkeiten zu umfangreich, und die Nerven wollten zuletzt versagen durch die dauernde Feindtätigkeit der Bomber.

Das Jahr 1945 endlich sollte uns nach vielen schwersten Kampftagen das Ende des gewaltigen Menschenringens schenken. Nachdem wir schon wochenlang durch das Radio das Anrücken der englischen Truppen im Rhein-Ruhrgebiet und Münsterland verfolgt hatten, stand am 2.4. 1945 die alliierte Wehrmacht vor den Toren Lingens. An beiden Ostertagen sahen wir den traurigen Rückmarsch, die Flucht der deutschen Soldaten nach Norden zu. Bordwaffenbeschießungen erfolgten unentwegt, und wieder standen die Operationssäle voller Opfer. Unendlich traurig war die erfolglose Arbeit, da von den meisten Sterbenden nicht einmal Papiere vorhanden waren und wir den Angehörigen nicht die geringste Nachricht zukommen lassen konnten.

Da ertönte dann am 3.4. plötzlich um 4.30 Uhr morgens der letzte Feindalarm in Form der Sirene, nachdem um 4 Uhr die gesamten Ems- und Kanalbrücken gesprengt wurden, um den Einmarsch der Truppen zu verhindern, um Lingen zur verteidigen, auf Befehl der SS-Fallschirmtruppen. Lingen war also keine offene Stadt mehr. Panikstimmung herrschte in der Stadt, in allen Menschen. Kopflos flohen viele aus der Stadt, viele, nachdem sie noch einiges geordnet hatten, doch waren wohl kaum 20% der Einwohner in der Stadt. Und wir im Krankenhaus rafften unsere gesamte letzte Kraft zusammen, ordneten alle Dinge, standen jeder auf unserem Platze, und waren, gestärkt durch die Gnade der hl. Kommunion, bereit, den letzten Kampf auf uns zu nehmen, zu leben oder zu sterben nach Gottes hl. Willen.

Um 10 Uhr morgens am 3.4. also begann die Beschießung der Stadt Lingen durch englische Artillerie. Am 4.4. mittags Eroberung des westlichen Teils der Stadt mit dem Krankenhaus. Weitere Kämpfe waren in der Stadt bis zum 5.4. abends. Somit standen wir also drei Tage lang im Kreuzfeuer der deutschen und englischen Artillerie. Das Krankenhaus erhielt 21 Artillerievolltreffer. Die Privatstation im 2. Stock wurde fast völlig beschädigt und schwere Schäden entstanden in der Kapelle selbst und am Altar. Da standen wir nun morgens am 6.4. vor vielen neuen Arbeiten und Aufgaben. Zunächst wiederum das Unterbringen und Versorgen der vielen, vielen Verletzten, dann das notdürftige Aufräumen des schrecklichen Durcheinanders, um einigermaßen den gesamten Betrieb des Krankenhauses wieder in Ganz zu bringen. Und das gelang dann auch mit der tatkräftigen Hilfe all unserer Schwestern und Angestellten. Dann aber galt es auch, mit der neuen Verwaltung, der englischen Militärregierung, fertig zu werden.

Der Lingener Marktplatz mit den Trümmern der 1945 zerstörten Häuser zwischen Marktplatz und Burgstraße

Mit Umsicht und Bereitwilligkeit gelang es auch da, und nach den ersten schweren Wochen konnten wir wirklich befreit aufatmen und an Aufbau denken.

Schon im gleichen Jahre gelang es, mit Genehmigung der Militärregierung, das Kolpinghaus zu übernehmen. Damit erreichten wir eine wesentliche Erleichterung insofern, daß wir nun sämtliche Infektionskranke dort unterbringen konnten, uns unser eigentliches Haus für andere Kranke dadurch vergrößert wurde. Und wirklich wurde auch das Kolpinghaus sehr gut durch Maurer, Maler und Möbeltischler ausgestattet. Gleich nach der Besichtigung der Militärregierung und unserer Ärzte gelangten die ersten Kranken hinein. Alles schien nun tatsächlich besser zu werden. Doch sollten wir noch nicht der Schicksalsschläge genug haben.

Am 9.2. 1946 überflutete eine Hochwasserwelle das gesamte Emsland in solch starkem Maße, daß unübersehbare Verheerungen zurückblieben. Die Dämme des Kanals brachen und hineinstürmten die Wassermassen in unsere Stadt Lingen. Der Schaden wurde sehr groß, zumal trotz wiederholter Anfragen bei der Polizei, ob die Keller geräumt werden sollten, immer wieder betont wurde, daß keine Gefahr einer Überflutung bestände. So waren alle Schwestern und Angestellten den ganzen 9.2.46 in allen Kellerräumen und schleppten das Wasser heraus, das bis gegen 19 Uhr erst nur fußhoch war. Doch dann plötzlich brauste das Wasser hinein und steig bis zu 1,80 hoch. Fast alle Vorräte an Lebensmitteln, Verbandstoffen, Textilien und so fort.

Tagelang behalfen wir uns so gut es eben ging. Durch Flösse brachte man uns aus der Stadt Brot und Milch: das Gefängnis, das selbst nicht unter Wasser stand, kochte für uns. Und uns selbst waren die Hände gebunden. Wir konnten nichts tun als abwarten und immer wieder von neuem nach dem langsamen Absinken des Wassers schauen. Ja und endlich war es soweit.

Aber wie sah alles aus! Wir waren erschüttert und ganz mutlos. Doch was half das alles. Wir mußten weiter, wir hatten ja unsere Pflichten und unsere Kinder, die Kranken. Der Gedanke stärkte uns und schon ging’s. Mit muten Kräften und wollenden Herzen schälte sich au Schlamm und Dreck ein Raum nach dem anderen wieder in seinem vorherigen Zustand hervor, ganz abgesehen natürlich von all dem, was tatsächlich verheert worden war.

Doch zu was das alles aufzählen. Die Not herrschte allgemein so groß, und wir wollen’s zufrieden sein, daß der Herrgott wieder einmal beschützte und uns die Möglichkeit gab, uns wieder emporzuraffen. Und so wollen wir weiter auf den allmächtigen, allbarmherzigen Gott vertrauen, auf daß er uns im Glauben stärke und uns die Kraft gebe, jedem Schicksalsschlag zu trotzen und frohen Herzens immer wieder demütig zu sagen vermögen: „Dein Wille geschehe wie auch heute, so morgen und alle Ewigkeit!“

Amen!

Lingen/Ems, den 28. Februar 1946

St. Bonifatius-Hospital e.V.

Schw. Salomona“

Schwester Oberin

Mit dem Kriegsende war die Zeit der Not und Entbehrungen längst noch nicht zu Ende. Der Lingener Marktplatz 1946.