Lengerichs kriegerische Ereignisse im April 1945

Ein Pastor beschreibt das Kriegsgeschehen im Kreisgebiet

Wehrmachtssoldaten vor der Gastwirtschaft Robbe in Lengerich

Von 1908 bis 1947 wirkte Hermann Meier als Pastor der reformierten Gemeinden in Lengerich und Thuine. Sein Pfarrhaus stand in Lengerich direkt neben der Kirche im Mittelpunkt des Dorfes. Kurz nach dem Kriegsende

zeichnete Meier seine Erinnerungen auf an die ersten Apriltage des Jahres 1945 auf.

„Bereits vor dem Osterfeste, das auf den 1. und 2. April fiel, kam ein Stab der sich aus Holland zurückziehenden Truppen hier an und quartierte sich im Hotel Völker ein. Das geschah am Donnerstag oder Freitag vor Ostern.

Das Fest verlief noch ruhig und die Gottesdienste ohne Störungen. Doch schon am 2. Feiertage und in den folgenden Tagen erlebten wir den Rückzug des Trosses auf allerlei Fahrzeugen und der gänzlich ordnungslosen Truppen. Es war ein sehr trauriger Anblick. Jede Führung fehlte, auch die Versorgung; alles hastete zurück. Ein Teil der Truppen zog in der Richtung nach Berge weiter, der andere nach Andervenne zu.

Der Rückzug hielt an bis Freitag den 6. April. In Lingen war der Feind schon am Osterdienstag eingedrungen und besetzte es bis Mittwoch In diesen Tagen waren viele Sprengungen zu hören, welche bei Lingen, auf dem Flugplatz Drope und bei dem Fliegerbeobachtungsposten auf dem Lohne stattfanden. Bei den Rückzügen erfolgten wilde Einquartierungen, besonders in den Nächten. Auch wurden vielfach Pferde für Vorspann mitgenommen. Langsam ging der Feind von Lingen aus vor:

Von Langen aus (links) zogen die Angreifer über den Öing Sand auf Dorf und Bauerschaft Lengerich (rechts) zu

Über Ramsel und Thuine nach Freren, über Brockhausen, Langen nach Lengerich, über Bawinkel nach Meppen, weil er überall Widerstand fand. Auch in Langen standen die Engländer vor Oeings Berg und eröffneten den Kampf, bis zur Mittagsstunde. Dabei sind auf dem Lohne mehrere Panzer kampfunfähig gemacht worden. Dem ersten Angriff auf unser Dorf ging ein Tieffliegerangriff vorher, bei dem Rieken Kaufhaus schwer getroffen wurde. Auch Oeing und das Heuerhaus gerieten gleich anfangs in Brand. Die Bewohner des Dorfes flüchteten in die festen Keller oder Erdbunker. Auch die beiden Kirchtürme erhielten wohl schon Treffer, weil in ihnen Beobachtungsposten vermutet wurden. Kurz vor Mittag, ungefähr um ½ 12, wurde mit Brandmunition geschossen. Dadurch brannten aus die Wohnungen von Gödiker und Brümleve-Waller, sowie die von Fr. Huesmann und Völkers Heuerhaus im Sack. Dieser erste Angriff richtete im Dorf noch keine schweren Schäden an.

Beide Kirchtürme nahmen die Engländer unter Beschuss

Nach der Mittagspause um 2 ½ Uhr begann der Kampf aufs neue und wurde immer heftiger. Ein Fliegerangriff eröffnete ihn: 2 Bomben trafen die Villa Haubrich, so daß die Bewohner aus dem einstürzenden Haus fliegen mußten. Auch diesmal wurde Brandmunition verwendet, so daß weitere Häuser im Schreiershok ausbrannten. Schnell aufeinander folgten die Einschläge der Geschosse. Sie wurden von den in den Kellern Schutz suchenden Einwohnern ängstlich verfolgt. Um 3 ¼ Uhr erhielt unser Pfarrhaus einen Treffer in die Nordseite des Daches, in Garten und Wiese fanden sich nachher 8 Trichter; durch die Explosion wurden Bäume vernichtet und zerstört. Ähnlich erging es den anderen Häusern. Die Pfarrscheune, überhaupt der Ostteil des Dorfes, lag auch im Beschuß der eigenen Truppen, die sich im Busch festgesetzt hatten. Infolge des Aufenthalts in den tiefen Kellern war kein Verlust an Menschenleben zu beklagen. Aber schlimm war das Dorf durch den Kampf mitgenommen!

Von mehreren Seiten aus rückten die Panzer in das Dorf ein

Von verschiedenen Richtungen drangen die Panzer ins Dorf ein: am Lindert entlang, durchs Burlohe und auf der Lingener Straße. Einige suchten auch gleich den Weg am Ostrum zu gewinnen, doch blieben sie im weichen Boden oberhalb Kratz stecken; nur einer kam durch. Unsere Panzer und Kampftruppen zogen sich hauptsächlich auf der Straße nach Handrup zurück. Die an der Südseite des Dorfs vorstoßenden Panzer nahmen dann die Richtung nach Hestrup, wo sie schnell vorwärts kamen, weil hier die Verteidigung fehlte. In der Zeit zwischen 6 und 7 Uhr waren die feindlichen Panzer im Dorf und die Durchsuchung der Häuser nach Militär und Waffen begann und hielt die Nacht hindurch an.

Auf dem Marktplatz wurde gegen 7 Uhr eine weiße Flagge aufgehängt

Um 7 Uhr sahen wir eine weiße Flagge auf dem Marktplatz. Vielfach mußten die Bewohner aus den Kellern und sich draußen versammeln während der Durchsuchung. Nachher fanden sie zu Hause ein arges Durcheinander vor. Es war geplündert worden. Beim Rückzug war an der Handruper Straße zwischen Lager und Kallage eine Sperre für Panzer gelegt. Es entwickelte sich dort ein Nahkampf, bei dem beide Höfe brannten. Ebenso erging es auf der Hestruper Straße dem Hofe Feldmann, Paul Raming. Auch unsere abziehende Artillerie hielt das Dorf noch unter Feuer. Die ganze Nacht auf Sonntag brachte noch Fernbeschuß, so daß die Bevölkerung die Nacht in den Kellern verbringen mußte. An einen Gottesdienst am 8. April war nicht zu denken. Beide Kirchen hatten stark gelitten, besonders die Kirchtürme.

Das Innere der katholischen Kirche lag voll von Staub und Scherben, auch fand sich darin ein Blindgänger. Das Innere der reformierten Kirche war ziemlich unversehrt geblieben. In ihr fand am Sonntag Mis.Dom. ein stiller Gottesdienst für Frauen statt, die von 10 bis 11 Uhr ausgehen durften, um einzukaufen. Für die Männer bestand mehrere Tage ein Ausgehverbot. Die Instandsetzung der katholischen Kirche dauerte länger. Die katholische Gemeinde feierte in der Zeit ihre Gottesdienste im Krankenhaus, in der Kapelle.

Am Dienstag, den 10.4., begann die Einquartierung der Besatzung in den am wenigsten beschädigten Häusern. Die erste Besatzung bestand aus Iren, die hauptsächlich die im Kampf beschädigten Panzer reparierten. Bei dieser Belegung mußten mehrere Häuser völlig fürs Militär geräumt werden, auch das reformierte Pfarrhaus. Doch zogen die Iren am Morgen des 15. April (Sonntag) ab, so daß die Wohnungen wieder in Benutzung genommen werden konnten. Ich will hier den „Kirchhöfern“ unsern Dank noch mal aussprechen für die tatkräftige Hilfe bei unserm Umzug in den nicht gebrauchten Teil der Kirche innerhalb zwei Stunden!

Wie hart um unser Dorf gekämpft wurde, ergibt sich aus der Zahl der Gefallenen. Auf deutscher Seite waren es 15, 10 Katholiken und 5 Evangelische, die erst an Ort und Stelle begraben wurden; dann aber auf Anordnung der Behörde in Lingen zusammen vor der reformierten Kirche 14 Tage nachher beigesetzt sind. Eine gemeinsame Beerdigungsfeier fand des Morgens 8 Uhr statt, unter großer Beteiligung der Bevölkerung, wobei beide Pastoren amtierten. Wie hoch die Opfer auf englischer Seite sich beliefen, steht nicht fest, da die Bestattung am Todesort durchs englische Militär vorgenommen wurde. Sie sollen höher als die deutschen Verluste gewesen sein. Die hier zum Einsatz gekommenen Deutschen waren junge Elitetruppen, z.T. Flieger.

Pastor Hermann Meier wirkte von 1908 bis 1907 in Lengerich und schrieb seine Kriegserinnerungen nieder

Folgende Häuser sind infolge der Kämpfe ausgebrannt: 1. Bauer Oeing, 2. dessen Heuerhaus (Rolves), 3. Krajen Oehm (Heuer), 4. Dall, 5. Schneider Slump, 6. Richterings Mietshaus (Gödike), 7. Determann-Suntrup, 8. Doppelheuerhaus von Duisen. Diese alle im Schreierhok. An der Gerstener Straße: 1. Schweinestall von Völker-Albert, 2. Fr. Huesmann, 3. Völker-Albert Heuerhaus dort. Dazu kommen noch in der Bauerschaft Kallage-Pruisken, Lager, Sope und Paul Raming (Feldmann). Das sind im ganzen 14 Wohnstätten. Durch Beschuss schwer beschädigt Biermann und Schröder im Sack, Kromminga, Dentist Kratz, Knoche und Pape, der Neubau Weitzel, Staggemeier und die Wachtmeisterei.

Nach den Tagen des Kampfes ging es an ein Aufräumen und Säubern der Häuser, deren Dächer zerschossen und deren Fenster durch den Luftdruck zersplittert waren. Die Jagd nach Ziegeln war groß. Wer weiß, wo sie alle herkamen, neue und viele alte. Es gelang sogar Herrn Erdmann, sein großes, völlig abgedecktes Dach wieder zu decken. Unter ihm lagerte ein gut Teil der Akten des Staatsarchivs Osnabrück!

In dieser Zeit fuhren täglich eine Unmenge Panzer und Autos durch unsern Ort. Die Straße Lingen-Berge war Nachschubstraße. Unsere schönen Asphaltstraßen wurden furchtbar mitgenommen. Die vielen ausländischen Arbeiter auf den Höfen wurden nun frei, und obgleich sie in Lingen kaserniert wurden, unternahmen sie in den Bauernschaften nächtliche Plünderungen. Bei solchen Überfällen wurde der Bauer Wellen (Schröder) erschossen und noch im Juli Bauer Rickermann. Die Bauern lebten in steter Unsicherheit.

War Lengerich zunächst von Besatzung frei geblieben, so daß das Leben seinen ruhigen Gang ging, so änderte sich das am 12. Juli. Polandtruppen wurden nach hier verlegt, die in Schulen und Sälen einquartiert wurden, während die Offiziere Privatquartiere erhielten. Mit ihnen kam eine große Zahl Panzer, bei den Übungsfahrten mit denselben erlitten Straßen und Wege Beschädigungen.

Nachgetragen sei, daß die Ausgebrannten aus dem männlichen und weiblichen Arbeitsdienstlager Baracken erhielten, welche sie am Brandherd aufbauten.“