Kapitulation in Spelle

Bis zum letzten Augenblick drohten Bomben und Beschuss

Über die Aabrücke in Dreierwalde stießen die englischen Panzer überraschend bis zum Bahnhof Spelle vor

Der Speller Heimatforscher Helmut H. Boyer (1929-1993) schrieb Anfang der 90er-Jahre nach den Angaben verschiedener Zeitzeugen sowie aus Notizen in örtlichen Chroniken einen Beitrag zum Kriegsende in Spelle. Er konnte dabei

insbesondere auch auf die Aufzeichnungen von Gerhard Rekers und die Forschungen von Karl Rekers zurückgreifen, die später in einem Buch zusammengestellt wurden.

„Gegen Ende März 1945 begann man in Spelle zwei Panzersperren zu bauen, die eine bei Müer, die andere unmittelbar an der Aabrücke. 25 cm dicke Kiefernstämme wurden 1,10 tief in die Erde gegraben, so dass sie noch 1,90 m herausragten. Sie bildeten auf jeder Seite der Straße ein Viereck von 2×4 m, das mit Sand ausgefüllt wurde. Im Ernstfall konnten in freigelassene Holzräume Kiefernstämme eingelegt werden. Die Bevölkerung zweifelte den Wert dieser Sperren an, ja, machte sich darüber lustig. Das Holz kam aus den Staatsforsten des Speller Sandes und musste von den Bauern angefahren werden.

Der alte Ortskern von Spelle geriet Anfang April 1945 vom Südfelde aus unter Beschuss

Am 25. März musste die Volkssturm-Kompanie auf Wöhlen Hof antreten. Sie war am 13. November 1944 aufgestellt worden aus allen männlichen Spellern und Venhausern zwischen 16 und 60 Jahren, die vereidigt worden waren. Nun wurde sie der Flak unterstellt und hatte im Ernstfall den Kanal von Venhaus bis Hanekenfähr zu verteidigen. In den kommenden Wochen sollte zweimal in der Woche je zwei Stunden Übung am MG, am Gewehr und an der Panzerfaust sein.

Die Angriffe auf die umliegenden Flugplätze in Dreierwalde und Plantlünne gingen weiter. Über das Vordringen der feindlichen Truppen gingen nur Gerüchte um. Es kam Befehl, dass die Gefangenen wegzuführen seien. Für sieben Tage sollten sie Verpflegung mitbekommen. Dazu die bestürzende Aufforderung, dass die Hitlerjugend ab 13 ½ Jahren sich ebenfalls um 6 Uhr zum Abtransport bei der Schule einzufinden habe. Man überlegte hin und her, und beschloss endlich, die Jungen hier zu behalten. Das war am Gründonnerstag.

Am Karfreitag berichteten deutsche Soldaten, dass die englischen Truppen bereits in Coesfeld seien. Am Tage darauf sprach man von Wettringen und Elte und von Panzerspitzen in Ibbenbüren. Der Volkssturm musste die Panzersperren bewachen. Von den Flugplätzen hörte man die Sprengungen von Hallen und Startbahnen.

Am Ostermontag, dem 2. April, war der Feind schon in Rheine, das bis zum Äußersten verteidigt werden sollte, wie man sagte. Die beiden Emsbrücken waren schon gesprengt. Doch am Abend wurde schon bekannt, dass Rheine links der Ems besetzt war, ohne Verluste und große Zerstörungen. Am Tage darauf war ganz Rheine eingenommen. Besonders schwere Kämpfe hatte es in der Nacht in der Nähe der Antonius-Basilika gegeben. Am Abend standen die Engländer an der Kanalbrücke bei Gute von Gescher in Holsterfeld.

Vom stolzen Infanterieregiment „Großdeutschland“ waren 1945 nur noch klägliche Reste kampfbereit

Auch Dreierwalde war besetzt (5. April). Die Leute waren voller Spannung. Keiner ließ sich draußen sehen. Überall im Ort waren deutsche Soldaten, meistens von der 55. Division „Großdeutschland“. Rings um Spelle stand Artillerie und schoss lebhaft. Man hörte Sprengungen, und in der Gegend der Altenrheiner Schleuse und Kanalbrücke fanden ziemlich schwere, verlustreiche Kämpfe statt. Noch kamen Trupps von Gefangenen durch unsern Ort. Die Bauern mussten Verwundete und Munition fahren. Der Venhauser Brückenkopf wechselte mehrere Male den Besitzer. Man hörte, dass die Stadt Lingen auch besetzt sei. Um 1 Uhr 50 flog die Eisenbahnbrücke Spelle in die Luft, wobei das Haus Afting/Meemann stark beschädigt wurde.

Nun setzte wieder Kanonenbeschuss ein, der hauptsächlich auf die Umgebung der Kirche zielte. Hunderte von Infanteristen zogen durch, in Richtung auf Schapen. Drei Panzer, die bei Tegeder und Rekers an der Aa und in der Lagerdurchfahrt bei Gerhard Rekers standen, wurden abgezogen. Man rechnete mit dem sofortigen Einzug der Engländer, doch das Gelände am Bahnhof wurde wieder neu besetzt.

Die englischen Panzer rückten bis zur Einmündung der Dreierwalder Straße vor und gerieten dort vor der Molkerei unter starkes Feuer, rechts die Firma Krone

Am nächsten Tag kam die Vermutung auf, dass Spelle wohl eingeschlossen würde. Am 7. April wurden plötzlich feindliche Panzer auf der Dreierwalder Straße gemeldet. Als sie um die Ecke bei der Molkerei bogen, eröffnete der einzige deutsche Panzer (vor dem Hause Tegeder stehend) das Feuer, das den ersten englischen Panzer erledigte und die anderen zur Rückkehr nach Dreierwalde zwang.

Frau Anna Sombecke wurde beim Artilleriebeschuss am 6. April tödlich getroffen

Darauf setzte Artillerie ein, wohl zur Vergeltung. Dabei wurde das Haus der Witwe Fleege getroffen, eine Frau ins Bein getroffen und Frau Sombecke in ihrem Haus tödlich getroffen. Am Abend wurde die Lage kritisch für Spelle. Es wurden Nebelbomben abgeschossen, die das Dorf in eine Art Rotglut hüllten. Gleich darauf erschienen Jagdbomber, die mit leichten Spreng- und Brandbomben sowie mit Bordwaffen das Dorf angriffen. Ein großer Brand entstand: Müer und Frankemöllers Haus standen in Flammen. Auch die Häuser Vehr und Roelfs hatten gelitten. Die Kirche hatte ebenfalls Treffer bekommen, und die Orgel war schwer beschädigt. Auch das Pfarrhaus hatte einen Artillerietreffer ins Dach bekommen.

Das Dach und der Turm der Speller Kirche erhielten schwere Treffer

Am Samstag setzte ein Flugzeug das Haus Evers in Brand. Am Bahnhof entstanden Schäden am Haus Afting, bei Krone und an der Molkerei. Besonders die Tätigkeit feindlicher Scharfschützen nahm zu, so dass sich niemand draußen sehen lassen durfte. Am Abend sagte ein Melder, dass Spelle das Schlimmste überstanden hätte. Man rechnete mit einem Abzug der deutschen Truppen oder einem Durchbruch der feindlichen Panzer, die sich im Bahnhofsgelände zahlreich angesammelt hatten.

Am Sonntag kam die Nachricht, dass die Engländer an der Brücke standen. Sie schienen noch nicht sichere Kunde davon zu haben, dass unsere Truppen abgezogen waren. Noch bestand die Gefahr, dass man mit der zahlreich aufgefahrenen Artillerie, die hinter Josef Fleege (Südfelde) stand, und mit Fliegerangriffen dem Dorfe schwersten Schaden zufügen wollte. Es gingen einige Kriegsgefangene zu den Alliierten und meldeten, dass das Dorf geräumt sei. So kamen gegen 10 Uhr an diesem Sonntag, dem 8. April 1945, zwei Trupps Amerikaner in Begleitung der Gefangenen vorsichtig spähend und oft im Anschlag kniend hinter den Straßenbäumen auf das Dorf und seine Häuser und Höfe zu. Sie kontrollierten alle Häuser und suchten nach Soldaten und Waffen.

Das Haus Müer im Dorf brannte beim Beschuss aus

Von Dorfe her näherte sich ein Trupp Speller mit einer weißen Fahne, unter ihnen Pastor Thye, ein französischer Kriegsgefangener, ein Pole und der damalige Bürgermeister Kösters. Er wurde gefragt, ob er dafür garantieren könne, dass in Spelle keine deutschen Soldaten mehr seien. Er erwiderte, dass er das nur für den Ortskern sagen könne. Nun ging die Besetzung ohne jede Reibung vonstatten. Die Bewohner konnten während des ganzen Tages frei im Dorf herumgehen. Erst später holte man die Waffen (Luftgewehre, Jagdflinten oder zurückgelassene Gewehre der Soldaten) ab.

Nun wurde auch bekannt, dass die Engländer 60 Panzer und etwa 30 Geschütze aufgefahren hatten, mit denen sie am Nachmittag Spelle beschossen hätten, wenn bis dahin die deutschen Truppen nicht abgezogen waren. Man kann sich leicht denken, was dann in Spelle geschehen wäre.

Auch die Firma Krone wurde von den Engländern besetzt, blieb aber unzerstört und konnte den Betrieb bald wieder aufnehmen