Das Lingener Stadttor führt Verteidigungsfunktion im Namen
Die vormoderne Stadt Lingen hatte drei Stadttore: das Burgtor, das Mühlentor und das Lookentor. Während die Namen Burgtor und Mühlentor noch heute verständlich sind – das ‚Tor bei der Burg‘ und das ‚Tor an der Mühle‘ – entzieht sich das Lookentor der einfachen Erklärung aus dem heutigen Wortschatz. Das liegt daran, dass wir den Bestandteil Looken– nicht mehr kennen, der den Durchgang der einstigen Stadtbefestigung näher bestimmte.
1990 haben die Kivelinge den Standort des Lookentores im Straßenpflaster markiert. Emslandmuseum Lingen.
Um das Geheimnis des Lookentores bzw. seines Namens zu lüften, müssen wir uns also auf eine Reise in die Sprachgeschichte begeben. Bereits 1549/50 erscheinen die „loycken poyrten“, also die ‚Lookenpforte‘, die mit Nägeln repariert wurde, und der „loycken poyrtener“, der ‚Lookenpförtner‘, der eine Mark Lohn erhielt, in den Stadtrechnungen. Auch die „mollen porten“ und „borch poyrten“ sind damals verzeichnet worden. 100 Jahre später werden 1650 die „Loken parte“, die „Möllen porte“ und die „barg porte“ in der Rechnung des Glasermeisters Johan Brummelewe an die Stadt Lingen für ersetzte und reparierte Fenster erwähnt. Die Schreibungen mit oy und später mit oo zeigen, dass wir es mit einem langen ô zu tun haben, was für die Erklärung des Namens wichtig ist. Man könnte nun vermuten, dass hinter Looken– ebenfalls eine bauliche Anlage wie eine Mühle oder eine Burg zu suchen ist. Nur lässt sich kein solcher Begriff in den historischen Sprachstufen des Niederdeutschen oder des Niederländischen finden, die zur Erklärung des Namens eines Bauwerks im vormodernen Lingen herangezogen werden müssen. Wegen des langen ô gibt es nur eine Möglichkeit: Looken– gehört zu mittelniederländisch (1150–1500) loeken ‚schauen‘ (vergleiche englisch to look ‚sehen, schauen, aussehen, suchen‘ bzw. das daraus gebildete Hauptwort look ‚Blick, Aussehen‘), das sich auch im Altniederdeutschen (800–1250) als lôkon ‚schauen‘ findet, im nachfolgenden Mittelniederdeutschen (1250–1600) allerdings nicht mehr.
Das Lookentor auf der ältesten Lingener Stadtansicht, dem um 1560 erstellten Plan des Jacob von Deventer († 1575). Emslandmuseum Lingen.
Aber kann ein Tätigkeitswort in den Namen des Stadttores eingegangen sein? Ja, es kann! Denn gerade bei Befestigungsanlagen gibt es schlagkräftige Vergleichsbeispiele: die Schaumburg bei Hameln, 1149 „de Scowenborch“. Diese Namenform, die zu altniederdeutsch skauwon, mittelniederdeutsch schouwen ‚schauen‘ gehört, ist als ‚schauende Burg‘ bzw. ‚Burg, von der man schaut‘ zu übersetzen – eine Burg also, von der sich wegen ihrer günstigen Lage die Angreifer bereits früh erblicken ließen. Genauso ist auch der Name Cappenberg (bei Selm) gebildet. Er gehört zu mittelniederdeutsch kapen ‚sich umsehen‘, meint also einen ‚Berg, von dem man sich umsieht‘. Dieses „Umsehen“ geschah aber nicht, um die Schönheit der Landschaft zu genießen, sondern um im Ernstfall Feinde frühzeitig zu erspähen und Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen. Das dürfte ebenfalls für das Lookentor bzw. die „loycken poyrten“ anzunehmen sein. Aus der Wendung „de lôkende porten“ wurde wie bei „de schouwende borch“ oder bei „de kapende berch“ die Lookenpforte, die Schauenburg oder der Cappenberg. Das nach Süden gerichtete Lookentor ist also nach seiner Aufsichtsfunktion benannt worden, die der 1549/50 erwähnte Pförtner als Torwächter auszuüben hatte. Von hier aus führte der Weg ins nahe münsterisches Gebiet – und diesen territorialen Gegner galt es seit jeher gut im Blick zu behalten. Möglicherweise war das Tor höher als die anderen, um eine bessere Aussicht zu erhalten.
Das Lookentor auf einer Karte des Jahres 1770. Sie zeigt auch den Weg zum wichtigen Übergang über die Ems ins Niederstift Münster. Niedersächsisches Landesarchiv, Abteilung Osnabrück, K 33, Nr. 101 h.
Dass das Tätigkeitswort loeken im breit überlieferten Mittelniederdeutschen nicht anzutreffen ist, sondern nur im Mittelniederländischen, lässt entweder auf ein hohes Alter der Torbezeichnung schließen oder aber auf sprachlichen niederländischen Einfluss schon vor Beginn der oranischen Herrschaftseinflüsse in Lingen seit 1578.