Wann wird Lingen Stadt?

2025 begeht die Stadt Lingen das Jubiläum der Ersterwähnung ihres Namens vor 1050 Jahren. Im Jahr 975 erscheint „Liinga“ in einer Urkunde Kaiser Ottos II. Damals war der Ort allerdings noch keine Stadt, sondern eine ländlich geprägte Siedlung. Denn laut dem kaiserlichen Schriftstück ging es um einen Gutshof mit dazugehörigen Äckern, Wiesen und Wäldern, der den Namen trug. Aber seit wann ist Lingen eigentlich eine Stadt?

Das Privileg von 1401

Aufgrund der Quellenüberlieferung ist diese Frage nicht eindeutig zu beantworten. Es hat sich keine Urkunde überliefert, in der Lingen das Stadtrecht verliehen wird. Wir müssen also auf Spurensuche gehen, um uns diesem Rätsel der Lingener Geschichte zu nähern. Gesichert lässt sich sagen, dass Lingen im Jahr 1401 als Stadt bezeichnet werden kann. Dabei muss man allerdings bedenken, dass eine mittelalterliche Kleinstadt sich hinsichtlich der Größe und Einwohnerzahl noch sehr von dem Gemeinwesen unterschied, das wir heute Stadt nennen. Aber es kam damals auch mehr auf die rechtliche Unterscheidung an, die die Stadt vom Dorf trennte. Gemeint ist hier etwa das Recht, die Siedlung mit Wall, Graben und Toren zu befestigen, oder bestimmte Freiheiten hinsichtlich der Selbstverwaltung. Solche Privilegien wurden Lingen nämlich im Jahr 1401, am 5. Februar, durch den Grafen Nikolaus von Tecklenburg (+ 1426) bestätigt. Hintergrund war die große Niederlage des Grafen im Krieg gegen die Bischöfe von Münster und Osnabrück im Jahr zuvor. Damals musste der Tecklenburger einen Großteil seiner Besitzungen an den münsterischen Bischof abtreten. Es galt also, den verbliebenen Rest seiner Herrschaft zu stärken und auszubauen. Daher – und vermutlich auch als Dank an die Lingener Bürger, die in den vielen Jahrzehnten der militärischen Auseinandersetzungen im Emsland viel zu leiden hatten – vergab der Graf Rechte und Freiheiten, die dem wirtschaftlichen Aufstieg Lingens dienen sollten, z.B. Erneuerung des Marktrechts und Vergünstigungen zur Kultivierung des Umlandes. In der Stadtrechtsverleihung von 1401, die jedoch nicht im Original überliefert ist, sondern nur als Abschrift in einer großen Privilegiensammlung der Stadt Lingen, die 1671 zusammengestellt wurde, heißt es allerdings ausdrücklich, dass es sich um eine Bestätigung und Erweiterung älterer Rechte handelt, die bereits Eltern und Vorfahren des Grafen Nikolaus den Lingener Bürgern verliehen hatten. Lingen besaß somit schon vor 1401 Stadtrechte. Leider wird hier kein genaues Datum genannt. Wir können nur ableiten, dass man vielleicht zwei Generationen (Eltern und Großeltern des seinerzeitigen Grafen) weiter in die Vergangenheit zurück gehen kann. Dass diese Angabe nicht bloße Floskel ist, sondern historischen Anhalt hat, beweist ein original überlieferter Siegelabdruck an einem Dokument aus dem Jahr 1394, der Lingener Schöffen als urbanes Gremium nennt. Vor 1401 gab es also Elemente einer städtischen Verfassung.

Erste Seite der Abschrift des Lingener Stadtrechts von 1401 im Privilegienbuch von 1671. Stadtarchiv Lingen, Nr. 255. Foto: Stadtarchiv Lingen

Bevergern: nach Lingener Recht

Eine weitere Spur führt nach Bevergern. Hier ist die Verleihung städtischer Rechte in einer originalen Urkunde aus dem Jahr 1366 (25. Juli) dokumentiert. Und in diesem Schriftstück heißt es, dass die Bevergerner Rechte nach Lingener Vorbild vergeben wurden. Lingen muss also schon 1366 städtische Rechte besessen haben. Und diese könnten wirklich von dem Großvater des oben genannten Grafen Nikolaus stammen, der ebenfalls Nikolaus (+ 1367) hieß und 1366 zusammen mit seinem Sohn Otto (+ 1388) die Bevergerner Rechte verlieh. Vor 1366 könnte dieser ältere Nikolaus (+1367) somit auch Lingen erstmals mit Stadtrechten ausgestattet haben.
Dagegen mag sprechen, dass Lingen bereits 1306 als „civitas“ mit einem „forum“, also Markt bezeichnet wird. Das lateinische civitas wird gemeinhin mit ‚Stadt‘ übersetzt. Allerdings ist der Begriff nicht so eindeutig, wie man es gern hätte. Eigentlich meint er nämlich nur die Gemeinschaft der „cives“, was oft mit ‚Bürger‘ wiedergegeben wird. Aber die cives, die auch im Leitspruch der Lingener Kivelinge erscheinen („cives, cives, civibus“), sind erstmal nur vollberechtigte Mitglieder eine Genossenschaft. Cives gibt es ebenfalls in ländlichen Siedlungen (Bauerschaften) – und zwar noch im 14. Jahrhundert! Ob man aus dem civitas-Beleg von 1306 daher wirklich Stadtrechte ablesen kann oder er lediglich auf einem bereits differenzierteren Gemeinwesen in Lingen beruht, muss offen bleiben.
Ähnlich verhält es sich mit der 1320 für Lingen belegten Bezeichnung „oppidum“. Dieser lateinische Ausdruck wird gern mit ‚Stadt‘ ins Deutsche übertragen. Aber dahinter können sich auch andere Siedlungs- und Rechtsformen verbergen wie ‚Flecken‘, ‚Wigbold‘ oder bloß ‚befestigte Siedlung‘. Der Begriff oppidum bezieht sich vielmehr auf die Befestigung einer Siedlung, nicht auf deren rechtliche Verfasstheit.

Vor 1366! – Aber wie lange davor?

Lingens Stadtwerdung in rechtlicher Hinsicht mit der Verleihung bestimmter Privilegien ist folglich ganz sicher als „vor 1366“ anzusetzen. Ein genaues Datum lässt sich nicht ermitteln. Der Historiker Wilfried Ehbrecht hat aber auf einen geschichtlichen Hintergrund aufmerksam gemacht, vor dem die Stadtrechtsverleihung Lingens gut erklärt werden kann und der ebenfalls optimal zu den Angaben im Privileg von 1401 passt: Im Jahr 1328 erbte Graf Nikolaus von Schwerin, dessen Mutter die Gräfin Richardis von Tecklenburg gewesen ist, von seinem kinderlos verstorbenen Onkel Otto von Tecklenburg (+ 1328) dessen Besitzungen – und damit auch Lingen. Mit Otto endete also damals die direkte männliche Linie des Tecklenburger Grafenhauses. Nikolaus siedelte daraufhin nach Westfalen über und nahm die Grafschaft und den Namen Tecklenburg an, während sein Bruder Otto (+ 1357) weiterhin die Grafschaft Schwerin regierte. Als letzterer 1357 starb, fiel Nikolaus auch das Schweriner Erbe seines Bruders zu. Nun musste er sich entscheiden, ob er Tecklenburg oder Schwerin oder beide Besitzkomplexe beherrschen wollte. Nikolaus entschied sich eindeutig für Tecklenburg. Denn 1358 verkaufte er nach langer Fehde seine Schweriner Stammlande an den Herzog von Mecklenburg, der seit 1345 ebenfalls Ansprüche auf dieses Herrschaftsgebiet erhob. Damit war Nikolaus‘ Wahl auf Tecklenburg gefallen. Hier baute er von nun an seine Herrschaft aus. Dazu gehörte auch die Entwicklung von Siedlungen zu Städten, wie die Stadtrechtsurkunde von 1366 für Bevergern zeigt. Vor diesem Hintergrund steht es zu vermuten, dass Lingen zwischen 1328 – vielleicht auch erst 1358 – und 1366 städtische Rechte erhalten hat. Dazu passt, dass Nikolaus‘ Enkel Nikolaus (+ 1426) 1401 schreiben lässt, dass die Lingener Rechte auf seine Vorfahren zurückgingen. Damit kann dann eigentlich nur der von Schwerin nach Westfalen gekommene Großvater gemeint gewesen sein. Denn ob Enkel Nikolaus (+ 1426) 1401 auch die urgroßmütterlichen, älteren Tecklenburger Grafen in dieses Vorfahrenkonzept einschloss, ist in einer damals schon maßgeblich nach der väterlichen Herkunftslinie ausgerichteten Vergangenheitssicht adeliger Familien zumindest fraglich.

Fazit

Zusammengefasst kann man somit folgern, dass die befestigte Burg- und Marktsiedlung Lingen zwischen 1328 und 1366 zur Stadt erhoben wurde. Möglicherweise lässt sich dieser Zeitraum noch auf die Jahre zwischen 1358 und 1366 eingrenzen, wenn man annimmt, dass Nikolaus von Tecklenburg-Schwerin (+ 1367) erst nach dem Verkauf seiner nordostdeutschen Besitzungen 1358 einen verstärkten territorialen Ausbau in Westfalen betrieb.