Von der Viehweide zum Windpark

Topographische Karte der Grafschaften Lingen, Bentheim und des Herzogthums Arenberg-Meppen, Blatt 62 (1857).
Im Norden der Stadt Lingen, westlich des Ortskerns von Clusorth-Bramhar, erstreckt sich das sogenannte Ochsenbruch. Heute beherbergt die Fläche einen Windpark, der laut Auskunft der Stadtwerke Lingen im Jahr 2022 knapp 30 Mio. Kilowattstunden „Windstrom“ produzierte. Der Park bestand 2023 aus elf Windenergieanlagen, von denen sechs den Stadtwerken Lingen und fünf der Betreibergesellschaft eines Bürgerwindparks (seit 01.04.2017) gehörten. Heute steht der Name Ochsenbruch also für „grüne Energie“. Doch woher kommt eigentlich ursprünglich die Bezeichnung? Haben sich hier Exemplare der Familie der Hornträger (Bovinae) einen Bruch zugezogen oder einen irgendwie gearteten Bruch verursacht? Um das zu klären, gilt es in die Vergangenheit zurückzublicken:
Das Ochsenbruch erscheint 1562 in einer Beschreibung der Weiderechte der Stadt Lingen noch in der niederdeutschen Form Ossenbroeck. Hier ist also richtig ins Hochdeutsche übersetzt worden. Schon 1800 wird die hochdeutsche Form auf einem Nivellementsprofil verwendet (siehe Abbildung). Der Name besteht aus zwei Teilen. Im Erstglied findet sich niederdeutsch osse ‚Ochse‘ in der Mehrzahl. Im Zweitglied steht mittelniederdeutsch brôk (ô meint ein langes o), dem im Hochdeutschen ‚das Bruch‘ entspricht (nicht zu verwechseln mit dem maskulinen Bruch im Sinne von ‚Fraktur‘). Ein brôk/Bruch war eine tiefliegende von Wasser durchsetzte und mit Gehölz bestandene Fläche, ein Sumpf. Man kann das Ossenbroeck also mit ‚Ochsensumpf‘ übersetzen. Aber warum ist das Feuchtgebiet nördlich Lingens nach den Ochsen benannt worden? Hier gibt es mehrere historische Hinweise, die das Motiv der Namengebung erklären können.

Kanalprojekt von der Plantlünner Dose nach Lingen. Nivellementsprofil mit Grabenprofilen auch Abwässerung des Speller- oder Ochsenbruchs (1800). Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen, Kartensammlung A, Nr. 5135.
Zum einen lag im Bereich des Ochsenbruchs der Hof zu Brögbern. Von diesem heißt es in der Landesbeschreibung aus dem Jahr 1549, dass auf seinen Wiesen- und Weideflächen vormals 200 Ochsen und Kühe sowie 400 Schafe gehalten wurden. Die Ochsen des Hofes zu Brögbern, der vor 1548 dem Grafen von Tecklenburg gehört hatte, könnten also im Ochsenbruch geweidet worden sein. Denn zur damaligen Zeit wurden auch sumpfige Niederungen zur Viehweide genutzt. Ein früher Beleg ist der Ortsname Herzebrock bei Gütersloh: Dieser erscheint im Jahr 976 in der Form Horsabruoca, die man mit ‚Pferdemoor, Pferdesumpf‘ übersetzen kann. Im ersten Teil steht altniederdeutsch hros / hers ‚Pferd‘ (vgl. englisch horse, deutsch Ross). Der Ortsname geht also auf ein Feuchtgebiet zurück, in dem Pferde geweidet wurden.
Zum anderen war Lingen in der damaligen Zeit eine wichtige Station des Ochsenhandels. Der Handel mit diesen Tieren zählte seit dem ausgehenden Mittelalter zu den Haupteinnahmequellen der Wirtschaft in der Stadt Münster und ihrem Umland. Die Ochsenherden kamen teils aus Westfalen und dem Oldenburgischen, teils aus Friesland, Dänemark, Polen, ja sogar aus Südschweden. Ein Großteil der Tiere wurde im August auf dem Bartholomäusmarkt in Greven verkauft. Einen anderen Teil der Rindviehherden trieben die Kaufleute im Frühherbst im Kölner Ochsenfest auf. Dort sollen um 1500 alljährlich zwischen 6.000 und 8.000 Tiere den Besitzer gewechselt haben. Doch ehe die Tiere als schlachtreife Ochsen verkauft werden konnten, mussten sie erst einmal aufgepäppelt werden. Vorzüglich eigneten sich dazu die feuchten Niederungen. Auch in Lingen machten die Ochsenherden auf ihrem Weg nach Münster Station, damit die Tiere wieder an Gewicht zunahmen und einen besseren Verkaufspreis in der Westfalenmetropole erzielten. So lässt sich nachweisen, dass allein im März 1601 über 5.700 magere Ochsen aus Dänemark die Grafschaft Lingen passierten. Auch in Lingen wusste man, dass, wenn man diese Tiere hier im Land weide und als fette Ochsen weiter verkaufe, man den vierfachen Preis erzielen könne. Dazu mussten die Tiere einen ausreichend großen Futterplatz zugewiesen bekommen. Und auch dieser könnte im Ochsenbruch gelegen haben.