Die Vechte – Die Größte der Kleinen

Die Vechte auf einer Karte der Grenze zwischen Ohne, Schüttorf, Wietmarschen und Salzbergen, Bauerschaft Stede sowie Emsbüren, Bauerschaften Ahlde und Lohne vor 1700. Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen, Kartensammlung A 4074.

Während ihre Mündung ins Zwartewater – dem nördlich von Zwolle verlaufenden Fluss – eindeutig ist, lässt sich die Quelle nicht ganz so eindeutig bestimmen. Die Rede ist von der Vechte, die in den Niederlanden als der „Größte der kleinen“ oder „Kleinste der großen Flüsse“ bezeichnet wird. Sie entspringt jedoch in Deutschland und legt hier auch den längeren Abschnitt ihres Gesamtlaufs zurück. Gut 100 Kilometer schlängelt sie sich durch das Münsterland und die Grafschaft Bentheim, bis sie beim niedersächsischen Laar die Grenze zum Nachbarland passiert. Nun hat sie noch gut 70 Kilometer auf niederländischem Gebiet bis zu ihrer Mündung zurückzulegen. Dass man ihren Ursprung nicht genau festmachen kann, liegt daran, dass sie mehrere Quellen hat. Eine von diesen liegt in der Bauerschaft Oberdarfeld, südöstlich von Darfeld, Gemeinde Rosendahl. Hier finden sich auch ein Gedenkstein und ein Hinweisschild, dass es sich um die Vechtequelle handele. Allerdings strömt nach etwa vier Kilometern der Darfelder Vechte, wie sie hier noch heißt, von rechts der um rund die Hälfte größere Rockelsche Mühlenbach zu. Laut einem verwaltungsgerichtlichen Feststellungsbeschluss aus dem Jahre 1962 wurde der nach weiteren zweieinhalb Kilometern erfolgende Zusammenfluss mit dem deutlich weniger Wasser als die Vechte führenden Burloer Bach in Eggerode (Gemeinde Schöppingen) als eigentliche „Entstehung“ der Vechte festgelegt. Auch an diesem Ort steht eine Tafel mit der Information: Hier entspringt die Vechte! Am Ausgangspunkt des Gewässers möchten also mehrere Orte ihren Anteil haben.

Ebenso wie der Ursprung ist auch die Länge des Gewässers nicht ganz genau zu ermitteln –  vielmehr ändert sich die Ausdehnung immer mal wieder: Da die Vechte ein Regenfluss ist, brach sie früher in niederschlagsreichen Zeiten gern einmal aus ihrem Bett aus und suchte sich einen anderen Verlauf, in trockenen Phasen blieb nur ein kleines Rinnsal zurück. Im Gegensatz dazu kam es 2010 nach unwetterartigen Regenfällen mit bis zu 200 l/m² im Zusammenhang mit dem Tiefdruckgebiet Cathleen zu einem Jahrhunderthochwasser. Insbesondere waren die Bentheimer Obergrafschaft und Nordhorn betroffen, die flussabwärts liegenden Orte der Niedergrafschaft konnten sich mit Vorlauf auf die steigenden Pegelstände vorbereiten. So verwundert es nicht, dass der Fluss im Lauf der Zeit seine Bahn änderte, wodurch immer wieder Schleifen, Verflechtungen, alte Flussarme und neue Flussbetten entstanden. Trotzdem besaß das Gewässer bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Bedeutung für die Binnenschifffahrt. Die Boote, sogenannte Zompen – niederländisch zomp bedeutet ‚Sumpf‘ –, waren von ihrer Bauart her dem niedrigen Wasserstand vor allem im Sommer angepasst. Über die Vechte wurde hauptsächlich Bentheimer Sandstein nach Zwolle befördert. Um die Transportzeiten zu verringern, legte man bereits um 1600 die Neue Vecht an. Mitte des 19. Jahrhunderts kamen der Kanal Dedemsvaart und der Abzweig Lutterhoofdwijk hinzu, wodurch sich die Strecke von Coevorden nach Zwolle wiederum verkürzte. Mit der Eröffnung des Overijsselse Kanaal 1858 endete schließlich die kommerzielle Schifffahrt auf der Vechte. Zwischen 1898 und 1908 nahm man dann noch eine Kanalisierung des Gewässers in Angriff. Die Wasserbauingenieure schnitten 69 Kurven im niederländischen Abschnitt ab. Deshalb büßte die Vechte zwischen der deutschen Grenze und Dalfsen gut 30 km Länge ein. Auch der Wasserstand sank ab, weshalb im Jahr 1920 zu dessen Regulierung sieben Schleusen und Stauwehre angelegt wurden. Heute ist die Vechte somit von ihrer Mündung bei Zwolle bis nach Junne oberhalb von Ommen schiffbar für Schiffe, die bis zu einem Meter Tiefgang haben. Durch gegenwärtige Wasserbaumaßnahmen zur Renaturierung hat der Fluss neue Mäander und mit ihnen wieder ein paar Kilometer hinzugewonnen. In Zeiten des Klimawandels möchte man dadurch den schnellen Abfluss des Wassers verhindern, was bei extremer Trockenheit für Natur und Landwirtschaft entlang der Vechte wichtig ist. Bedingt durch die Hitzewelle im Sommer 2018 kam es Ende Juli zwischen Neuenhaus und Nordhorn zu einem massiven Fischsterben.

Dass das Gewässer in der Vergangenheit für die Menschen stets von Bedeutung war, zeigt schon sein Name. Er geht zurück auf germanisch *fahti – das h ist als Reibelaut ch zu sprechen –, was so viel wie Fang bedeutet. Wehre zum Fangen von Fischen dürften also das namengebende Motiv gewesen sein. Das zeigt auch ein alter Beleg für einen anderen gleichnamigen Fluss, die Utrechtsche Vecht, der sich in den ältesten Werdener Urbaren aus der Zeit um 890 findet. Dort heißt es: an theru fehtu en uuerr – an der Vechte ein Wehr. Der Name der Utrechtschen Vecht ist aber wesentlich früher belegt und wird erstmals in einer Inschrift als FECTIONE genannt, die aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. stammt. Von diesem Gewässernamen ist auch der niederländische Ortsname Vechten abgeleitet. Neben der im Münsterland entspringenden Vechte, die in den Niederlanden Overijsselse Vecht heißt, und der Utrechtschen Vecht muss es aber noch weitere Gewässer gleichen oder ähnlichen Namens gegeben haben. Das lässt sich etwa aus dem Namen der Kreisstadt Vechta (1188 Vechte, 1189 Vechte, 1231 tor Vegte) oder dem Ortsnamen Vichten (Kanton Redingen, Luxemburg: 1182 Uhethe (lies Uehte?), 1241 Vichten) erschließen, die heute am Vechtaer Moorbach bzw. Vichtbach liegen.

Dieser naheliegende Anschluss an die wirtschaftliche oder nahrungsbeschaffende Nutzung ist aber bisher kaum erkannt worden. Vielmehr ranken sich Legenden um den Namen: So soll die Vechte ursprünglich den germanischen Namen Vidrus getragen haben. Als zur Zeit der Christianisierung ein Prinz namens Vechtan in den Fluss stürzte und ertrank, habe man dem Gewässer zur Erinnerung den heutigen Namen gegeben – eine schöne Geschichte, aber historisch völlig haltlos. Man hat auch vermutet, der Name Vechte sei keltischen Ursprungs und gehöre zu einem Wortfeld, das sich in alt-irisch fecht erhalten haben soll, was so viel wie Gang oder Reise bedeute. Für einen alten Gewässernamen ist das allerdings wohl zu abstrakt, denn in der Frühzeit werden Bäche und Flüsse nach recht konkreten Motiven benannt wie Farbeindruck, Wasserqualität und Fließgeschwindigkeit – oder eben nach der technischen Nutzung zum Antrieb von Mühlen und Fischwehren. Aus gleichem Grund ist auch die Ansicht abzulehnen, wonach der Gewässername zu germanisch *fehtô, *fehtôn ‚Kampf‘ (zu germanisch *feht-a– ‚fechten‘) gehören soll, obwohl das lautlich durchaus möglich wäre. Doch wodurch soll etwa eine Gewässername wie „die Kämpfende“ motiviert gewesen sein?

Gedenkstein bei Ane.

Wenn der Name auch nicht an das Wortfeld um Kampf anzuschließen ist, war die Vechte in ihrer Vergangenheit trotzdem durchaus öfter Schauplatz kriegerischer Handlungen. Das Vechtetal war vor allem ein Durchzugsgebiet, weil es zwischen den Machtzentren Utrecht, Münster und den nördlichen Niederlanden lag. Dabei konnte das teilweise sumpfige Areal sogar einen strategischen Vorteil bieten: Als sich im Jahr 1227 der Bischof von Utrecht, Otto II. von Lippe, entschloss, den aufrührerischen Aktivitäten des Burggrafen Rudolf II. von Coevorden ein Ende zu setzen, kam es bei den Sümpfen beim niederländischen Dorf Ane zu einer spektakulären Schlacht, die in die Geschichte eingehen sollte. Auf Seiten des Bischofs standen wohlgerüstete und kampferprobte Herren – zahlreiche Grafen und Adelige aus dem Münsterland, dem Kölnischen, Holländische, Geldernschen, Klevische und Bentheimischen. In Ane schlugen sie ihre Zelte auf. Über die Vechte brachten Schiffe Proviant, Waffen und Kriegsgut. Die Zeichen standen damit insgesamt auf Sieg. Der Gegner Rudolf von Coevorden stellte sich mit seinen Leuten, hauptsächlich Drenter Bauern und Handwerker sowie deren Frauen, gegenüber der bischöflichen Streitmacht auf. Zwischen beiden Heeren lag nur ein vegetationsloser sumpfiger Streifen von einer halben Meile. Als nun die Mannen des Bischofs angriffen, versanken die ersten Reihen aufgrund des Gewichts der Rüstungen im Morast. Ein anonymer Chronist berichtete darüber: „Aus der Ferne mit Pfeilen und Speeren und aus der Nähe mit dem Schwert werden sie von den Drenter Unmenschen abgeschlachtet wie Vieh.“ Selbst der Bischof wurde ergriffen, skalpiert, erstochen, seine Leiche ins Moor geworfen. Seine sterblichen sollten jedoch später geborgen werden, um sie in Utrecht zu bestatten. Auch der berühmte Kreuzfahrer und kampferfahrene Ritter Bernhard der Gute von Horstmar starb in dieser ungewöhnlichen Schlacht. Graf Gerhard III. von Geldern oder Gijsbrecht II. von Amstel fielen schwer verwundet den Coevordern in die Hände, wurden aber später wieder freigelassen. In Ane erinnert heute eine Gruppe von Findlingen an das Ereignis.

Auch im Achtzigjährigen (1568–1648) und dem damit einhergehenden Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) war die Region betroffen. Die Orte wurden regelmäßig überrannt, niedergebrannt und geplündert. 1580 etwa kamen spanische Söldner mit 400 Pferden nach Neuenhaus in der Grafschaft Bentheim und quartierten sich hier wochenlang auf Kosten der Bewohner ein. Später waren auch Bentheim, Gildehaus und Nordhorn an die Reihe. Doch selbst nach dem Westfälischen Frieden 1648 kehrte keine Ruhe in der Gegend ein. Der münsterische Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen startete 1665 einen Feldzug, um das vom „rechten Glauben“ abgefallene Groningen wieder seinem katholischen Herrschaftsbereich einzuverleiben. Eine Schneise der Verwüstung zog sich damals durch den niederländischen Achterhoek und Overijssel, wofür dem geistlichen Oberhirten der wenig standesgemäße Name „Bomben Bernd“ zuteil wurde. Auch als „Kanonenbischof“ titulierte man ihn.

Namengebend war das Wasser der Vechte wohl ebenfalls für den Ort Ohne. Es dürfte sich hier nämlich ursprünglich um einen Gewässernamen gehandelt haben, der dann auf die Siedlung überging. Denn es gibt auch einen Fluss Ohne in Thüringen, der ein Zufluss zur Wipper ist. Das niedersächsische Ohne kommt 1188 und 1231 als On, 1313 als Oon vor. Letzterer Beleg und die heutige Schreibung mit h zeigen, dass das O in Ohne lang ist. Daher lässt sich der Name auf germanisch *Auna zurückführen und ist damit zu dem Wortfeld um Aue, Aha – zu germanisch *ahw– ‚Wasser‘ – zu stellen. Ebenfalls könnte der bisher nicht befriedigend erklärte Name Schüttorf mit der Lage an der Vechte zusammenhängen, wenn man bedenkt, dass es Gewässer gibt, die den Bestandteil Schütt- oder ähnlich im Namen tragen und auf schütten ‚ausgießen‘ zurückgeführt werden: so die einstige Schüdt bei Ilmendorf oder der Schüttachgraben in Österreich. Aber das muss noch einer näheren Untersuchung vorbehalten blieben.