Hat der Gierenberg etwas mit der Hinrichtungsstätte zu tun?
In der letzten Folge dieses Blogs ging es um die letzte öffentliche Hinrichtung auf dem Lingener Gierenberg, die an Gerhard Kruis alias Knapp Gerd vor genau 200 Jahren vollzogen wurde. Aber woher kommt eigentlich der Name der Richtstätte? Was bedeutet Gierenberg? Und hat der Name vielleicht etwas mit diesem schaurigen Ort zu tun?
Schaut man in ein niederdeutsches Wörterbuch, so wird man in dieser Hinsicht auch schnell fündig: Gier ist der ‚Geier‘. Und wem erscheint nicht beim Stichwort Galgen eine Hinrichtungsstätte mit Aasgeiern vor den Augen, wie man sie aus zahlreichen Western-Filmen kennt. John Wayne lässt schön grüßen!
Sprachlich könnte der Gierenberg wirklich ein ‚Geierberg‘ gewesen sein, weil das mittelniederdeutsche gîr, das stark gebeugt wird, also im Wessen-Fall gîrs lautet, noch eine Variante gîre hat, die schwach gebeugt wird: gîren.
Aber ist das auch vorstellbar? Gab es überhaupt Geier in der Region – bzw. den Vogel, den die Menschen damals unter dieser Bezeichnung verstanden? Denn eine wirkliche Festlegung von eindeutigen Namen und Zuordnungen in der Tier- und Pflanzenwelt (Taxonomie) gibt es erst seit dem 18. Jahrhundert. Zuvor konnten unter dem gleichen Tier- oder Pflanzennamen regional ganz unterschiedliche Lebewesen verstanden werden. Es könnte also durchaus aasfressendes Geflügel gewesen sein, das dem Gierenberg seinen Namen gab.

Ausschnitt aus der Topographischen Karte von Westphalen des Generalmajors Carl Ludwig von Le Coq aus dem Jahr 1805.
Doch es bestehen Zweifel: Zum einen scheint der Name Gierenberg früher noch nicht für den Bereich der Richtstätte gegolten zu haben. Auf der Topographische Karte von Westphalen des Generalmajors Carl Ludwig von Le Coq aus dem Jahr 1805 ist der Gierenberg noch klar vom benachbarten „Galgenberg“ getrennt. Und auf früheren Karten findet sich der Namen Gierenberg noch nicht.
Zum anderen gibt es noch einen anderen Anschluss des Namens. Der Bestandteil Gieren- ist in Flurnamen mit dem niederdeutschen Begriff gêre für den Speer oder Wurfspieß, aber auch für ein keilförmiges Stück Land zu verbinden. Gemeinsamkeit ist hier die dreieckige Form der Speerspitze und der Keilform. Häufig erscheinen Varianten mit der Hebung des Stammvokals von e zu i. Der Gierenberg kann also von den Menschen der Region auch als ein Keilberg oder Zwickelberg wahrgenommen worden sein – worin auch immer der Vergleichspunkt bestanden hat. Durch seine heutige Bewaldung ist das ursprüngliche Benennungsmotiv kaum noch auszumachen. Auf der LeCoq’schen Karte von 1805 sieht er jedenfalls eher wie ein Keil aus als etwa der benachbarte Wellenberg.
Dass diese Erklärung die richtige sein wird, zeigt auch eine Karte aus dem Jahr 1770. Hier ist nämlich neben dem Wellenberg („Berg zum Wellsum“) auch ein „Schieferberg“ eingetragen, der nach seiner schiefen Topographie benannt wurde und vielleicht mit dem Gierenberg identisch ist.

Lingens Gericht und Schieferberg auf der „Carte der quaestionirte Graenzen zwischen Stadt und K.Lingen, und der Bauerschafft Darme, Kirßpfels Schepstorff“ von 1770. Quelle: Landesarchiv Niedersachsen, Abteilung Osnabrück, K 33 Nr. 101 h.
Somit haben die Hinrichtungen auf dem Lingener Richtplatz den Namen des Gierenberges wohl nicht motiviert, sondern eher seine Form.
Zur Info:
Der Gierenberg ist ein Teil der Lingener Höhen, einer bis etwa 91,7 Meter über NN hohe Hügellandschaft der Dümmer-Geestniederung im norddeutschen Tiefland. Sie liegt zwischen Lingen und Freren. Die Lingener Höhen sind Teil einer Endmoränenstaffel aus dem frühen Vergletscherungsgeschehen der Saaleeiszeit und entstanden vor etwa 230.000 Jahren. Der Name ist allerdings nicht so alt. Er lässt sich erst seit zwei Jahrhunderten Belegen.