Vierzehnjährige werden Eingezogen

Paul Heine erinnert sich an das Kriegsende 1945

Paul Heine aus Baccum wurde kurz von Kriegsende als Vierzehnjähriger eingezogen

Am 5. März 1945 hatten Staatssekretäre im Reichministerium in Berlin den Beschluss gefasst, die Angehörigen der Jahrgänge 1929 und 1930 aus den vom Feind bedrohten Gebieten zurückzuziehen. Die „Einberufung“ der noch nicht der Wehrerfassung unterliegenden Jugendlichen hatte die besondere Genehmigung des Führers erforderlich gemacht. Das deutsche Volk musste ja – wie Hitler es formulierte – „in der schwersten Zeit der deutschen Geschichte, wo es um Sein oder Nichtsein des ganzen Volkes geht, zu größten Opfern bereit sein“.

Die Jahrgänge 1928 und 1929 hatten bereits eine vormilitärische Ausbildung erhalten. Angehörige des Jahrgangs 1928 waren z.T. schon im Fronteinsatz. Als das Kampfgeschehen im März 1945 bedenklich näher rückte, wurden die Räume Schüttorf-Bentheim-Nordhorn-Lingen als vom Feind bedroht eingestuft. Die Auflösung der „Wehrertüchtigungslager“ wurde vorbereitet, ebenso die Zurückziehung des Jahrgangs 1930. Die Angehörigen der Jahrgänge 1928 und 1929 sollten dem Volkssturm angegliedert werden, zur Stärkung der Heimatfront.

Paul Heine berichtet als Zeitzeuge über das Kriegsende (Foto 2005)

Dienstag, den 27. März, war es dann soweit, dass die Angehörigen des Jahrgangs 1930 ihre Einberufungsbefehle erhielten. Im Einzugsbereich des Wehrertüchtigungslagers Baccum hatten sich die 14- bis 15jährigen Jungen am 29. März (Gründonnerstag) bei der Baccumer Schule einzufinden. Als Verwendungszweck wurde eine langfristige Schanzzeit (Stellungsbau) angegeben. Mitzubringen waren: Leibwäsche, derbe Kleidung und Schuhwerk, eine Decke und für drei Tage Verpflegung. In Baccum, Ramsel und Münnigbüren hatten acht Jugendliche Einberufungsbefehle erhalten, es erschienen jedoch nur fünf. Bei den Einberufungen anderer Gemeinden war es ähnlich.

Treffpunkt für die Eingezogenen war die Schule in Baccum

Als Angehöriger des Jahrgangs 1930 musste ich auch einrücken. Ich möchte deshalb zur Vervollständigung der Ereignisse jener Zeit meine Erlebnisse schildern: Von der Führung des inzwischen aufgelösten Wehrertüchtigungslagers begleitet, marschierte unsere Gruppe, es mögen etwa 70 bis 80 Jugendliche gewesen sein, noch am selben Abend nach Freren. Für die Übernachtung

wurden uns einige Klassenräume einer Schule zur Verfügung gestellt. Ein Nachtlager aus Stroh o.ä. gab es nicht, so dass wir mit dem nackten Fußboden vorliebnehmen mussten. Gegen Mittag des nächsten Tages wurden wir zum Antreten auf dem Schulhof befohlen. Man teilte uns mit, dass wir mit der Bahn nach Wildeshausen fahren würden und dort in ein großes Lager kämen. Eine Gruppe sollte zurückbleiben, um die Schule und den Schulhof wieder zu säubern, danach sollte sie uns folgen. Zwei meiner Baccumer Freunde und einige andere wurden für die Aufgabe aufgerufen. Statt uns zu folgen, wurden sie jedoch nach Erledigung ihres Auftrages entlassen. Von den acht Einberufenen aus Baccum waren somit nur noch drei übriggeblieben: die beiden Brüder Richard und Heinz Schoppe aus Ramsel und ich. Auf der Fahrt zu unserem Bestimmungsort gelang es einigen Jugendlichen zu fliehen. Wir waren erstaunt, dass man sie einfach laufen ließ und nichts unternahm.

An unserem Bestimmungsort angekommen, wurden wir in einem aus 6 bis 8 großen Baracken bestehenden Lager untergebracht, das sich auf dem Gelände eines Segelflugplatzes nördlich von Wildeshausen befand. Jungen aus dem Raum Schüttorf, Bentheim und Nordhorn waren schon vor uns eingetroffen. Bewacht wurde das Lager von 16jährigen Volkssturmmännern, jeweils ein bewaffneter Doppelposten für eine Baracke. Die Verpflegung war gut und unser Nichtstun ließ sich wohl mit den bevorstehenden Osterfeiertagen in Zusammenhang bringen. In den Nachmittagsstunden des 1. April (Ostersonntag) mussten alle Lagerinsassen auf dem großen Vorplatz antreten. Der Lagerführer, ein uniformierter Parteigenosse, erklärte uns den Ernst der Lage: feindliche Truppen ständen westlich von Rheine und seien ständig auf dem Vormarsch. Es sei damit zu rechnen, dass die Alliierten in den nächsten Tagen die Umgebung von Lingen erreichen würden. Über unser zukünftiges Schicksal wagte er keine Voraussagen zu machen. Ob und wie lange er noch Verpflegung beschaffen könne, wisse er nicht. Er versprach jedoch, für uns zu tun, was er könne. Darüber hinaus bat er, dass jeder Ordnung und Disziplin bewahren möge. Um letzteres einzuhalten, wurde für 22 Uhr der Zapfenstreich angekündigt, d.h. ab dieser Zeit durfte sich niemand mehr draußen aufhalten. Sollte jemand die Toilette benutzen müssen, die sich draußen in einem „kleinen Häuschen“ befand, dürfte dieser die Schuhe nicht verschnüren und keine Jacke tragen. Außerdem wurde eine Parole bekanntgegeben, die jeder nach Anruf des Wachpostens zu sagen hatte. Für die folgende Nacht hieß das Kennwort „Immelmann“. Wie alle verspürten ein gewisses Unbehagen. Meine beiden Ramseler Freunde und ich setzten uns sehr bald zu einem Gespräch zusammen. In uns reifte der Plan zur Flucht. Dieses war jedoch wegen der bewaffneten Posten nicht ungefährlich; umso mehr noch, weil zunächst die Start- und Landebahn der Segelflugzeuge, eine freie Fläche von etwa einem Kilometer, überwunden werden musste.

In jeder freien Minute besprachen wir Details der Flucht. Letztlich fehlte uns aber doch der Mut zum „Abhauen“. Am Nachmittag des 1. April (Ostersonntag) entschlossen wir uns deshalb, zunächst bei der Lagerleitung um unsere Entlassung zu bitten. Höflich klopften wir an, und unsere Absätze knallten nur so, als wir unseren Vorgesetzten die Ehre bezeigten. Vor uns an einem Tisch saßen der Parteigenosse und ein Feldwebel der deutschen Wehrmacht. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit Ostereiern, die uns an zu Hause erinnerte, obwohl wir den Osterbrauch eigentlich gar nicht vermissten. Wir baten höflich um unsere Entlassung, mit der Begründung, dass nach Aussage des Lagerleiters der Feind in nächster Zeit auch unseren Wohnort besetzen werde, und – so fügten wir hinzu – der Krieg wohl bald zu Ende sei. Bei unseren Vorsetzten herrschte zunächst großes Schweigen. Der Feldwebel, dessen Brust mit Tapferkeitsauszeichnungen geschmückt war, ergriff dann das Wort. Erwartet hatten wir einen militärischen Ton, seine Stimme klang eher väterlich. Zuerst fragte er nach Name, Alter, Wohnort und Beruf, dann wollte er Beruf und Stellung der Eltern wissen und ob wir Väter oder Brüder im Krieg hätten. Er stimmte zu, dass der Krieg wohl bald zu Ende sei und wir Deutschen die Verlierer sein würden. Was unsere Entlassung anbetreffe sagte er, dafür sei die Lagerleitung nicht zuständig und dieses sei ohnehin auch kaum möglich. Darüber hinaus seien wir minderjährig, und die Lagerleitung trage für uns die volle Verantwortung. Dieses gelte auch, wenn wir das Lager verlassen würden.

Nach der Ablehnung des Antrages stand die Flucht für uns endgültig fest. Da wir unser Zuhause noch vor den alliierten Truppen erreichen mussten, durften wir keine Zeit verlieren. Wir beschlossen, das Lager noch am selben Abend zu verlassen. Die Dunkelheit sollte die Flucht über das freie Feld begünstigen. Die Zeit, die die Wache für eine Umrundung der Baracke brauchte, wurde gestoppt. Unter Mithilfe eines Kameraden reichten wir unser Gepäck durchs Fenster und deckten es mit Sträuchern zu. Die anbrechende Dunkelheit ließ eine Entdeckung kaum befürchten. Nachdem die Wache erneut den Eingang passiert hatte, setzten wir zur Flucht an. In schnellem Lauf ging es über das freie Feld, uns schon nach wenigen hundert Metern hatte uns die Dunkelheit geschluckt. Wir gingen davon aus, dass unser Verschwinden nicht vor 22 Uhr bemerkt würde, und mussten bis dahin einen guten Vorsprung erreichen. Nach Überquerung der freien Fläche erreichten wir ein Waldstück, wo wir zunächst eine kurze Ruhepause einlegten. Unser Ziel war zunächst eine Eisenbahnlinie, die wir auf dem Hinweg überquert hatten. Nach Erreichen derselben ging es weiter nach Dötlingen und von dort nach Großenkneten, der Bahnstation, wo wir auf der Hinfahrt den Zug verlassen hatten. Unterwegs trafen wir noch zwei weitere Ausreißer, von denen wir uns jedoch sogleich wieder trennten, weil wir in einer größeren Gruppe eine schnellere Entdeckung befürchten mussten. Da wir erst 10 bis 12 Kilometer vom Lager entfernt waren, waren wir glücklich, dass noch am selben Abend ein Zug fuhr, der uns nach Oldenburg brachte. Am nächsten Tag wollten wir über Leer-Meppen nach Lingen weiterfahren. Dieses wurde jedoch durchkreuzt, als wir in Oldenburg auf dem Bahnhof ein großes Plakat erblickten, das die Einstellung jeglichen Eisenbahnverkehrs beinhaltete. Für den Rest der Nacht legten wir uns auf den Steinfußboden der Wartehalle zur Ruhe.

Die 60 Kilometer von Leer nach Papenburg liefen die drei Baccumer zu Fuß

Da an eine Fahrgelegenheit nicht zu denken war, setzten wir am nächsten Morgen zum Fußmarsch an. In Unkenntnis der kürzeren Strecke marschierten wir zunächst nach Leer, 60 Kilometer, die wir bis zum Abend schaffen wollten. Tieffliegende feindliche Jagdflugzeuge zwangen uns wiederholt in volle Deckung. Ziemlich erschöpft erreichten wir in den Abendstunden die Stadt Leer. Bei unseren Bemühungen um Fahrgelegenheit für den nächsten Tag erfuhren wir, dass am frühen Morgen ein Werksbus Arbeiter nach Papenburg zur Werft bringe. Nach erneutem Nachlager auf dem Steinfußboden des Bahnhofs gelang es uns, den Fahrer des Busses zu überreden, uns mitzunehmen. Schon um 7 Uhr, es war der 3. April, waren wir in Papenburg. Um 8 Uhr ging es zu Fuß weiter. Das nächste Ziel war Meppen. Unsere schmerzenden Füße und Beine versuchten wir durch Massieren von den Verkrampfungen zu befreien. In der Gegend von Aschendorf begegnete uns ein langer Zug feindlicher Kriegsgefangener, die vor den vorrückenden alliierten Truppen in Sicherheit gebracht werden sollten. Die Bewachung bestand aus Volkssturmmännern, drei von ihnen waren Baccumer. Das Marschieren wurde immer mühsamer. Unsere Freude war deshalb groß, als wir etwa 20 bis 25 Kilometer nördlich von Meppen einen Lieferwagen anhalten konnten, der uns mitnahm. Gegen 12 Uhr stiegen wir in Meppen aus dem Wagen und es schien, als müssten wir aufgeben. Unsere Beine schmerzten so stark, dass wir kaum noch in der Lage waren, einen Schritt zu tun. Der Jüngste von uns weinte. Wir setzten uns auf den Bürgersteig und wussten eigentlich nicht mehr, was wir machen sollten.

Unser Atem stockte plötzlich, als wir in der Ferne Geschützdonner hörten, der sich unschwer als aus dem Raum Lingen kommend ausmachen ließ. Die Frontlage, die wir damals nur nach der wahrzunehmenden Schießerei beurteilen konnten, war folgende: Schon in der vorausgegangenen Nacht war es den Engländern gelungen, in Schepsdorf die Ems zu überqueren. Durch starke deutsche Gegenangriffe wurden sie gegen Mittag wieder auf das Westufer zurückgeworfen. Feindliche Artillerie bemühte sich, Lingen sturmreif zu schießen. Gegen 10 Uhr wurde die Emsbrücke in Wachendorf überquert, und die Engländer rückten nach Altenlingen zum Kanal vor. Aufgrund dessen wurden dann in den Nachmittagsstunden sämtliche Kanalbrücken zwischen Lingen und Meppen gesprengt.

Gegen Mittag des 3. April befanden wir uns noch westlich des Dortmund-Ems-Kanals und beschlossen, den Wasserweg schon in Meppen zu überqueren. Da wir von den Vorgängen in Lingen nichts wussten, war dieses unser Glück. Die Brücke war von deutschen Soldaten besetzt, die uns jedoch nach einigen Fragen zu unserem wohin und woher passieren ließen. Wir hatten die Reichsstraße 70 verlassen und nahmen von Meppen an die Bahnstrecke als Wanderweg. Mühsam trugen unsere Füße uns von einer Bahnschwelle zur anderen, Kilometer für Kilometer. Um unser Marschtempo einigermaßen beizubehalten, wurde nur an bestimmten Orten gerastet, auch die Länge der Pausen war genau festgelegt.

Je mehr wir uns Lingen näherten, desto schlimmer wurde die Schießerei; auch Maschinengewehr- und Gewehrfeuer waren zu hören. Artilleriegeschosse heulten über unsere Köpfe hinweg. In Heukamps-Tannen, damals noch unbewohntes Gebiet, verließen wir den Bahndamm und marschierten querfeldein in die Richtung, in der wir Baccum vermuteten. Zunächst durchquerten wir lange uns unbekannte Gebiete, bis plötzlich die Gemeinde Laxten identifiziert werden konnte. Gegen 19 Uhr erreichten wir das Zuhause meiner Freunde. Nach einer kurzen Pause machte ich mich wieder auf den Weg. Vor mir lagen noch etwa 2 Kilometer, die mir noch sehr schwergefallen sind. Unter allerhand Strapazen hatten wir den Wettlauf mit den vorrückenden Engländern gewonnen. Hinter uns lagen etwa 180 Kilometer, die wir in zwei Tagen zurückgelegt hatten, davon über 100 Kilometer zu Fuß.

Das letzte Stück Wegstrecke von Ramsel nach Baccum war noch sehr beschwerlich

(Unterschiedliche Fassungen dieses Berichtes wurden bereits im Baccumer Heimatboten 1985 sowie im Ausstellungskatalog „Wege aus dem Chaos“ abgedruckt).