Wenn es in Lingen an der Haustür klingelt

Kontakt Rotterdam-Lingen 75 Jahre nach Kriegsende

Das Ehepaar Olislager aus Rotterdam klingelte in der Bauerntanzstraße 10

In der vergangenen Woche klingelte es plötzlich bei der Familie Koop in der Bauerntanzstraße. Draußen vor der Tür stand …

das niederländisches Ehepaar Olislager aus Rotterdam mit einem Dokument in der Hand. Darin stand vermerkt, dass der Vater von Frau Olislager, Dirk Kranendonk, vor 75 Jahren hier im Hause Koop das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hat.

Rasch wurden die beiden Niederländer eingelassen, Kaffee gekocht und Informationen ausgetauscht. Bekannt ist in der Familie Koop bis heute der belgische Kriegsgefangene Emile Wilmotte. Dieser attestierte der Familie Koop auf der Rückseite eines Fotos die gute Behandlung, die er als Kriegsgefangener in der damaligen Bäckerei Koop erfahren hatte und vermerkte hierzu auch noch seine Heimatadresse in Brüssel. Als Anfang April 1945 die Engländer in Lingen einrückten, flüchtete die Familie Koop aus ihrem Haus in der Bauerntanzstraße, legte das Foto mit dem Kommentar aber gut sichtbar auf den Tisch. Die Engländer haben daraufhin, so ist es in der Familie überliefert, in der Wohnung und in der Backstube nichts angerührt.

In dem niederländischen Dokument der Familie Olieslager wird dieser belgische Kriegsgefangene erwähnt, ferner als weitere Kollegen in der Bäckerei ein Niederländer mit dem Namen Paul und ein Deutscher namens Walter, dem aber keiner traute, weil sein Vater bei der SA war.

Razzia in Rotterdam am 10. November 1944

Was aber machte der damals 19jährige Dirk Kranendonk aus Rotterdam im Frühjahr 1945 in der Bäckerei Koop in Lingen?

Auskunft gibt ein Interview, das sein Neffe Dirk Tulp, ein bekannter niederländischer Künstler, schon im Jahr 2000 mit seinem inzwischen verstorbenen Onkel Dirk Kranendonk geführt hat.

Im Mai 1940 hatte die Wehrmacht die Niederlande erobert und die Deutschen hatten dort ein Besatzungsregime eingerichtet, das die Niederlande fünf Jahre lang rücksichtslos ausplünderte. Erst mit der Landung in der Normandie im Juni 1944 zeichnete sich die Möglichkeit der Befreiung ab. Im Herbst 1944 standen die Alliierten bereits in den südlichen Niederländen und machten sich zum weiteren Vorrücken bereit. Wegen des starken deutschen Widerstandes und weil die Deutschen ganze Landstriche in den Niederlanden unter Wasser gesetzt hatten, stockte jedoch der Vormarsch.

Dirk Kranendonk (Jg. 1925) war während des Krieges Bäcker in Rotterdam. Am 10. November wurde er bei einer Razzia in der Backstube von deutschen Soldaten verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt lief die größte Razzia im Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden. Dabei wollten die deutschen Besatzungstruppen möglichst viele Arbeitskräfte für den Einsatz in Deutschland gewinnen (es ging um mehrere zehntausend Männer) und gleichzeitig verhindern, dass arbeits- und wehrfähige Niederländer von den vorrückenden alliierten Truppen befreit würden. (Weitere Hintergründe dieser Aktion findet man im Internet z.B. unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Razzia_von_Rotterdam

In Begleitung der Soldaten konnte Kranendonk noch rasch ein paar Sachen von zuhause abholen. Die Eltern und die Familie waren entsetzt, aber es gab kein Entrissen. Auch der ältere Bruder wurde von den Deutschen abgeführt.

An einem Sammelpunkt in der Stadt suchte Kranendonk nach einer Fluchtmöglichkeit, aber es war zu gefährlich. Die Männer wurden in die Halle des Rotterdamer Busdepot gebracht und von dort in großen Gruppen zum Hafen geführt. Von dort aus ging es per Schiff weiter.

Ungefährlich war das nicht, denn die Schiffe wurden von Englischen Flugzeugen beschossen, die ja nicht wussten, wer die Männer an Bord waren. Auf Befehl der Deutschen mussten sie an Deck weiße Fahren schwenken, während sich die Soldaten in Sicherheit brachten.

Die Schiffe brachten die Männer nach Kampen. Dort warteten bereits viele Männer, die man bei einer Razzia im Noordoostpolder verhaftet hatte, auf den Weitertransport. Mit der Eisenbahn ging es mit unbekanntem Ziel in Richtung Osten.

Der Zug hielt am Bahnhof in Lingen und die Niederländer wurden in der Dietrich-Eckart-Schule (der früheren evangelische Volksschule, genannt „Postschule“) untergebracht. Sie schliefen in großen Gruppen in den Klassenräumen auf dem Boden, auf dem nur etwas Stroh ausgestreut lag.

Die alte Bäckerei Koop in der Bauerntanzstraße 10

Ein deutscher Offizier erschien und fragte nach einem Bäcker, einem Heizer und einem Schlachter. Dirk Kranendonk meldete sich und wurden zur Bäckerei Robert Koop in die Bauerntanzstraße gebracht. Koop fragte ihn: „Sind sie ein richtiger Bäcker“ und Kranendonk antwortete geistesgegenwärtig: „Ja, besser als Sie“.

Zusammen mit deutschen Arbeitskräften und dem belgischen Kriegsgefangenen Emile musste Kranendonk in der Backstube arbeiten. Gemeinsam versuchten sie, dem Kollegen Walter das Leben schwer zu machen, denn sein Vater war ein Nazi.

Gebacken wurde nachts. Kranendonk musste dann morgens zurück zur Schule zum Schlafen, was dort aber tagsüber fast unmöglich war. Gemeinsam mit seinem Chef versuchte er, ob er nicht im Haus Koop übernachten dürfte. Ohne Schlaf halte er sonst nicht lange durch. Die Bewacher erklärten, dass sei nur möglich, wenn Koop mit Leib und Leben für ihn hafte, falls er einen Fluchtversuch unternehme. Diese Verantwortung wollte Kranendonk nicht übernehmen.

Eines Nachts erschien ein deutscher Offizier in der Backstube. Ein hoher Nazi hatte sich erschossen und Kranendonk sowie ein Kollege mussten ihm helfen, die blutüberströmte Leiche zum Krankenhaus zu bringen. Nach diesem Ereignis erhielt Kranendonk plötzlich den Ausweis für die Übernachtung bei Koop.

Auf Bitten Koops stellte Kranendonk diesem ein Testat über seine gute Behandlung aus. Im Gegensatz zur bisherigen Unterbringung schlief er bei Koop wie im Paradies. Nur mit dem in Holland ja unbekannten Federbett kam er erst nicht zurecht, weil er meinte, er müsse darauf und nicht darunter schlafen.

Aus Richtung Süden hörte man mittlerweile immer häufiger und immer länger den Kanonendonner der Front. Die Familie Koop flüchtete aus der Innenstadt, die nun fast menschenleer war. Die Gefangenen blieben dort zurück und schliefen in Koops Ehebett. Sie erschraken sehr, als plötzlich alliierte Soldaten in der Tür standen. Kranendonk rief sofort „I am Dutchman“ (ich bin Holländer).

Nun backte Kranendonk für die Engländer und tauschte das Brot gegen viele Zigaretten ein.

Nach den Engländern rückte die Prinses Irenebrigade, eine niederländische Einheit in den Reihen der Alliierten, nach Deutschland ein. Kranendonk schloß sich ihr an und erhielt eine Militäruniform. Aufgabe seiner Einheit war es, nach dem Durchzug der Front versprengte deutsche Soldaten und versteckte Nazis zu ergreifen. Kranendonk war lange genug in Lingen gewesen, um die Adressen möglicher Verstecke genau zu kennen.

Mit der Prinses Irenebrigade zog er weiter nach Emden, später nach Hamburg und sogar nach Berlin. Dort hatten sie Kontakt mit der Russischen Armee und kamen auch nach Buchenwald.

Schließlich wurde Kranendonk noch als Helfer in einem Grenzauffanglager in Glanerbrug bei Gronau eingesetzt und kehrte von dort Anfang 1946 nach Rotterdam zurück.

Das Ehepaar Olislager und die Familie Koop in der Bauerntanzstraße

Mit großem Interesse verfolgte die Familie Koop die Schilderungen Mia Olieslagers über das Schicksal ihres Vaters bei Kriegsende. Der war übrigens in den 1960er-Jahren gemeinsam mit seiner heute 93jährigen Schwester bereits einmal nach Lingen gefahren, um die Familie Koop zu besuchen. Sein früherer Chef Bäckermeister Robert Koop war mittlerweile Bürgermeister der Stadt Lingen.

Das Ehepaar Olislager hatte von diesem Besuch vor über 50 Jahren gehört und war nun begeistert von der freundlichen Aufnahme bei der Familie Koop, die auch zu einem gemeinsamen Abendessen einlud, bei dem man den Austausch vertiefen konnte.

Am nächsten Morgen besuchten die beiden Familien gemeinsam die Ausstellung „Das Kriegsende im Raum Lingen vor 75 Jahren“ im Emslandmuseum. Museumsleiter Dr. Andreas Eiynck konnte weitere Hinweise zu den vielen hunderten niederländischen Arbeitskräften geben, die seit Herbst 1944 im Raum Lingen eingesetzt waren. Viele arbeiteten beim Bau der „Emsstellung“, einem weitläufigen System von „Panzerabwehrgräben“ westlich der Ems, andere waren bei Bauern oder auch in örtlichen Betrieben wie eben der Bäckerei Koop in Lingen eingesetzt.

Ein Dokument in der Museumssammlung listet die Berufe der vielen niederländischen Arbeiter auf, die damals in der Dietrich-Eckart-Schule untergebracht waren, darunter auch 7 Bäcker – einer von ihnen Dirk Kranendonk.

Im Emslandmuseum befindet sich sogar ein Tagebuch eines dieser Niederländer, in dem er seine Erlebnisse aus Lingen, Wachendorf und Lohne von November 1944 bis zur Befreiung im April 1945 beschreibt. Die meisten dieser Arbeiter, die man aus den Niederlanden verschleppt hatte, kamen aus dem Raum Kampen, doch auch die „Rotterdamer“ werden in den Berichten immer wieder erwähnt.