Von der „Königlichen Hauptwerkstätte“ zum „Reichsbahn-Ausbesserungswerk“
Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war Deutschland eine Monarchie und die Eisenbahn war eine „königliche Eisenbahn“. Im November 1918 ging
der deutsche Kaiser und König von Preußen, Wilhelm II., nach Holland ins Exil. Aus der „königlichen Hauptwerkstätte“ in Lingen wurde die „preußische Hauptwerkstätte“. 1920, vor genau einhundert Jahren, ging die Preußische Eisenbahn dann in der Deutschen Reichsbahn auf.
Unmittelbar nach Kriegsende begann im Lingener eine kurze Blütezeit. Doch es war nur eine Scheinblüte. Der kriegsbedingte Reparaturrückstau an Dampfloks und Waggons musste dringend abgearbeitet werden. Als weitere Aufgabe kam bald die Aufarbeitung von Lokomotiven und Wagen für die Reparationsleistungen an Frankreich und Belgien hinzu. Die einstigen Kriegsgegner akzeptieren nur vollständig instandgesetzte und intakte Fahrzeuge. Möglich war dies nur durch die Einstellung von zusätzlichem Personal. 1919 erreichte die Beschäftigtenzahl mit 2287 Arbeitern einen Höchststand. Viele Eisenbahnarbeiter zogen mit ihren Familien nach Lingen – die Wohnungsnot stieg.
Lingen war ein wichtiger Standort, weil man hier während des Krieges die große Lokrichthalle gebaut hatte (Halle I, heute Campus Lingen). 1919 wurde hier die sogenannte „Fließfertigung“ aufgenommen, die den Reparaturablauf wesentlich vereinfachte. Betrug die Reparaturzeit für eine Dampflok bei einer Hauptuntersuchung in der Zeit um 1900 je nach Aufwand noch drei bis sechs Monate, so war sie mit dem „Fließverfahren“ in der Regel nach vier Wochen wieder fahrbereit. Durch die Einführung des „Kesseltauschverfahrens“ verringerte sich die Standzeit noch einmal auf 16 bis 18 Tage. Hierfür war jedoch ein Ausbau der Kesselschmiede durch seitliche Anbauten notwendig.
Parallel dazu erfolgte eine wichtige Neuorganisation im deutschen Eisenbahnwesen. Am 1. April 1920 wurde aus den bislang selbständigen Ländereisenbahnen der deutschen Bundesstaaten zunächst die „Reichseisenbahn“, die dann zur „Reichsbahn“ umfirmierte. Die Werkstätten wurden organisatorisch vom Eisenbahnbetriebsdienst getrennt und einer eigenen „Direktion für das Werkstättenwesen“ zugeordnet. Aus der „Preußischen Hauptwerkstätte“ wurde das „Reichsbahn-Ausbesserungswerk“ (RAW) im Rang eines eigenen „Werkstättenamtes Lingen-Ems“.
Die Arbeitsbedingungen für die Eisenbahner verbesserten sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Der 8-Stunden-Tag wurde eingeführt, neue Sozialeinrichtungen geschaffen: ein Speisesaal, Wasch- und Umkleideräume sowie eine neue Badeanstalt mit Brausebädern und Badewannen. Eisenbahn und Baugenossenschaften nahmen Wohnungsbauprogramme für Eisenbahnerfamilien in Angriff. Im Strootgebiet entstanden neue Arbeitersiedlungen.
Die Eisenbahner vor Ort hatten nach dem Krieg in ihrem Alltag viele Sorgen. An der miserablen Versorgungslage änderte das Kriegsende zunächst wenig und im Frühjahr 1919 kam es in Lingen zu Hungerdemonstrationen der streikenden Eisenbahnarbeiter. In den folgenden Jahren hatten die Eisenbahner zwar Arbeit, aber die aufziehende Inflation vernichtete den Wert des Einkommens. Die Belegschaft in Lingen machte von ihrem Streikrecht Gebrauch, um auf die wachsende Not aufmerksam zu machen. Mit eigenem Notgeld in Milliardenwerten versuchte die Eisenbahn, die Auszahlung der Löhne sicherzustellen.
Die „Verreichlichung“ der Ländereisenbahnen zur „Reichseisenbahn“ von 1920 war nur der erste Schritt beim Umbau des Eisenbahnwesens. 1924 wurde die „Reichseisenbahn“ von einem staatlichen Betrieb zu einem selbständigen Unternehmen umgewandelt, der „Deutschen Reichsbahn“. Diese übernahm 1925 auch die Bahnstrecke von Salzbergen bis zur niederländischen Grenze, die bis dahin eine holländische Eisenbahngesellschaft betrieben hatte.
Die Zusammenlegung der Ländereisenbahnen zur Reichsbahn brachte für den Eisenbahnverkehr in Deutschland viele Vorteile. Die Organisationsstrukturen wurden vereinheitlich, technische Neuerungen konnten nun deutschlandweit eingeführt und umgesetzt werden. Allerdings überschattete die Wirtschaftskrise die vielen Verbesserungen, die Anfang der 20er-Jahre bei der Eisenbahn erfolgten. Auch im Lingener Eisenbahnwerk kam es zu Massenentlassungen. Viele, die geglaubt hatten, sie hätten einen sicheren Arbeitsplatz bei der Bahn, waren nun von Arbeitslosigkeit betroffen. Der Personalabbau war begleitet von Protesten der Arbeiter. Im Herbst 1924 wurde eine ganze Kompanie Reichswehr zum Schutz der Werkstatt nach Lingen verlegt. Vor den Haupteingängen brachten die Soldaten Maschinengewehre in Stellung, die ihre Mündungen auf die Werkshallen richteten. Die Lage blieb friedlich, aber das Vertrauen in die neue Republik wurde durch solche Maßnahmen nicht gerade gestärkt. Die Entlassungswellen liefen weiter. Ende der 20er-Jahre waren nur noch gut 1100 Eisenbahner im Werk beschäftigt, Anfang der 30-er-Jahre sank die Zahl weiter auf unter 1000 Mitarbeiter.