Ein Industriebetrieb zu Zeiten des Wirtschaftswunders
Die Geschichte einer Stadt und einer Region ist immer auch die Geschichte ihrer Handwerksbetriebe, ihrer Fabriken und ihrer Industrieanlagen. Oft sind sie schon nach wenigen Jahrzehnten wieder aus dem Stadtbild verschwunden und vergessen. Hierzu gehört auch das „Lingener Hartsteinwerk“ auf dem Gelände des heutigen Telgenkampsees.
Schon vor dem Ersten Weltkrieg plante der Kaufmann Adelmann aus der Marienstraße den Bau eines Kalksandsteinwerkes auf dem Gelände des heutigen Neuen Friedhofs. Durch die Inflation und die Wirtschaftskrise sah er aber von diesem Vorhaben ab und verkaufte das weitläufige Grundstück 1922 an die Friedhofskommission.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine große Nachfrage nach Wohnraum und Betriebsgebäuden. In Lingen waren überdies viele Häuser durch Luftangriffe und Bodenkämpfe zerstört. Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten brauchten Wohnungen und Arbeitsplätze. So entstand eine große Bauwelle. Mauersteine wurden in ungeheuren Mengen benötigt. Im sandigen Emsland kam man dabei auf eine Herstellungstechnik, die erst in der Zeit um 1880 erfunden wurde: Die Kalksandsteine, auch Hartsteine genannt. Sie wurden nicht aus Lehm gebrannt, sondern aus Kalk, feinem Sand und Wasser unter hohem Druck und hohen Temperaturen zusammengepresst. Dafür brauchte man allerdings besondere Brennöfen mit einem Druckbehälter.
In Lingen lagen nördlich der Wilhelmshöhe die sogenannten Sandberge, ein früher unbebautes Dünen- und Heidegelände. Hier erwarb Rudolf Begger, ein Schwager des Lingener Bauunternehmers Alfons Lühn, die Genehmigung zum Sandabbau und richtete 1950 auf dem ausgedehnten Gelände ein Kalksandsteinwerk ein, das „Lingener Hartsteinwerk“.
Sandbagger, Förderbänder und eine Lorenbahn wurden aufgebaut sowie eine Halle für die Anlagen der Formpresse und der Brennkammer errichtet. Herzstück des Betriebes war die sogenannte Autoklave, ein Druckbehälter, in dem die zuvor bereits geformten Steine bei hohen Temperaturen mit Kalk gebrannt wurden. Dabei erhielten sie auch ihre typische weiße Farbe, während Lehmziegel beim Brand durch Oxydation eine rote oder gelbe Farbe annehmen.
Da die Ringstraße um die Innenstadt damals noch nicht existierte und auch der Nordring noch nicht entsprechend ausgebaut war, musste die riesige Autoklave mit einem Spezialtransporter mitten durch die Innenstadt zu ihrem Standort gebracht werden, was damals angesichts der engen Straßen und Kurven großes Aufsehen erregte.
Zum Antransport des Sandes sowie zum Be- und Entladen der Brennkammer waren zahlreiche Arbeitskräfte erforderlich, doch daran herrschte in der Nachkriegszeit in Lingen kein Mangel. So war das Kalksandsteinwerk auch ein wichtiger Arbeitsgeber in der Stadt.
Die Steine fanden in den benachbarten Neubaugebieten am Telgenkamp und in Heukamps Tannen sofort reißenden Absatz und wurden bald auch in einen großen Umkreis ausgeliefert. Weil Kalksandsteine für Außenmauerwerke im Emsland nicht so beliebt waren, wurden die Häuser häufig mit roten Backsteinen verblendet oder mit Putz und Anstrich als sogenannte „weiße Häuser“ errichtet, was damals im Emsland eine Neuheit war und ganzen Siedlungen den Namen gab.
In der Sandgrube neben dem Kalksandsteinwerk am Telgenkamp bildete sich allmählich ein immer größer werdender Baggersee. Irgendwann in den 60er-Jahren waren die dortigen Sandvorkommen erschöpft und der Betrieb des Kalksandsteinwerkes konnte nicht weitergeführt werden. Zurück blieb ein Dünengelände rings um den Baggersee, den viele wegen seines Besitzers auch „Beggersee“ nannten. Ende der 60er-Jahre entstand dort eine weitläufige Parkanlage und aus dem Baggersee wurde der Telgenkampsee.