Kivelingsfest 1949: „ohne Stechschritt und Hackenknallen“
Die Spuren des Krieges waren in Lingen noch an vielen Stellen unübersehbar und viele ausgebombte und zerschossene Häuser warteten noch auf den Wiederaufbau. Die Währungsreform von 1948 hatte die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg geschaffen. Auch die Kivelinge wagten 1949 erstmals nach dem Krieg und 12 Jahre nach dem letzten Vorkriegsfest 1937 einen Neuanfang.
Ende 1945 hatten die Britischen Besatzungsbehörden den Verein wieder genehmigt. Seitdem hatten sich die Kivelinge in Sektionen wieder getroffen, Winterfeste und Theateraufführungen, ja sogar ein Sommerfest waren 1947 und 1948 schon wieder möglich. Doch ein großes, mehrtägiges Kivelingsfest mit Festbällen und Aufzügen?
Das Interesse am Vereinsleben war riesig. Die Mitgliederzahl stieg von etwa 100 im Jahre 1947 auf fast 300 zum Fest 1949. Die erhaltene interter KDV (Kivelings-Dienst-Vorschrift) von 1949 im Archiv des Emslandlandmuseums, verfasst vom damaligen Kommandeur Karl-Heinz Goosmann (1905-1966), ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen des damaligen Festablaufes. Sieben eng beschriebene Seiten umfasst die detaillierte Beschreibung des Festablaufs, die nötig waren, weil viele der damaligen jungen Kivelinge wegen des Krieges noch nie ein solche Fest mitgefeiert hatten.
Ein Volksfest mit Markttreiben in der Innenstadt und einen Festumzug am Pfingstmontag gab es damals bei den Kivelingen noch nicht. Am Samstagnachmittag (4.6.1949) wurde Grün geholt und geschmückt.
200 Flüchtlingskinder bewirtet
Den Auftakt des Festes bildete am Sonntag (5.6.) eine nachmittägliche „Kinderbewirtung“. Dabei wurden 200 Flüchtlingskinder, die mit ihren Familien aus den Deutschen Ostgebieten nach Lingen gelangt waren, von den Kivelingen auf der Wilhelmshöhe mit Kuchen und Kakao bewirtet. Dazu spielte die Kapelle der Bahnpolizei Münster und der Puppenspieler Jochen Hamanns begeisterte die Kinder mit einer Sondervorstellung des „Lingener Kaspers“.
Denkwürdige Fahnenweihe
Am Sonntagabend gab es ein Konzert auf der Wilhelmshöhe mit einer Fahnenweihe. Kommandeur Goosmann liebte traditionsreiche Rituale und so wurde die Weihe der beiden neuen Fahnen auf folgende Weise vollzogen: „Nach einem Tusch werden die drei Kapitäne zum Thron befohlen. Der erste nimmt die alte Fahne, die beiden anderen die neuen. Die Fahnen sind so zu halten, dass die Tücher sich berühren. Sämtlich im Saal anwesenden Kivelinge erheben sich. Die Königin fasst die Tücher zusammen und weiht sie mit einer kleinen Ansprache. Darauf Kivelingsmarsch…“ Auch die neuen Ehrenmitglieder wurden an diesem Abend ernannt.
Pfingstmontag
Der Pfingstmontag (6.6.) begann um 7 Uhr mit einem Weckzug der Musikkapelle durch die Straßen der Innenstadt. Um 9 Uhr trafen sich die Kivelinge zur Kranzniederlegung am Kriegerehrenmal, wo insbesondere der im Krieg gefallenen Kivelinge gedacht wurde.
Stechschritt und Hackenknallen sind zu unterlassen
Um 11 Uhr holten die Kivelinge ihren König Friedel Seemann zu Hause ab und geleiteten ihn zum Rathaus. Dieser Aufzug sollte auf einen Fall an die Aufmärsche der NS-Zeit erinnern und darum heißt es in der Dienstanweisung: „Jede Gruppe marschiert in gehörigem Abstand, jedoch ohne Tritt. Es ist hier wie bei allen Aufzügen des Festes darauf zu achten, dass sich ein ordentliches und exaktes, jedoch kein militärisches Bild ergibt. Stechschritt, Hackenknallen, Hände an die Hosennaht, allzu scharfe Kommandos und ähnliche militaristische Bekundungen sind zu unterlassen. Ein tadelloses Benehmen bei jedem öffentlichen Auftritt wird als Selbstverständliche angesehen, insbesondere Ehrengästen, Ehrenmitgliedern und allen älteren Personen gegenüber.“
Dann übergaben die Kivelinge dem Bürgermeister als Geschenk eine silberne Amtskette mit 26 Gliedern in Form des Kivelingswappens und einem Anhänger mit Stadtwappen. Bürgermeister und Kommandeur nahmen nun einen Ehrentrunk auf das Wohl der Stadt und verkündeten dann den König. „Von Seiten der Kivelinge hat ein donnerndes und geschlossenes Hoch zu erfolgen“, beschreibt hierzu die Dienstanweisung.
Dann ertönte der Kivelingsmarsch und die Gesellschaf zog zum Haus der Königin, die mit den Ketten, dem kleinen Vogel und einem Diadem ausgestattet wurde.
Um 14.30 Uhr war Antreten aller Kivelinge vor dem Stadthaus am Markt. Kommendeur und Adjutanten kamen von der Burgstraße her und schritten über den Markt bis ins Rathaus. In diesem Moment verstummte abrupt die Musik, um die Aufmerksamkeit zu steigern. Und als die beiden wieder heraustragen erklang der Kivelingsmarsch.
Am Rathaus bildeten die Kivelinge ein Spalier längs über den Marktplatz. Das Königspaar schritt unter den Klängen des Kivelingsmarsches über den Platz und wurde am Ende vom Kommandeur vor dem Rathaus empfangen. Dort überreichte der Bürgermeister dem König die Insignien des Bürgersöhne-Aufzuges: die Ketten aus den verschiedenen Jahrhunderten der Reihe nach und am Ende den großen silbernen Vogel. Anschließend nahm der König den Ehrentrunk aus einem Silberpokal.
Aus Richtung Lookenstraße näherte sich die Königskutsche und der Kommendeur, hoch zu Ross, begrüßte das Königspaar.
Dann formierte sich der Bürgersöhne-Aufzug mit den Kutschwagen, den Fahnen und den drei Zügen der Kivelinge.
Nach einem Umzug durch die Stadt ging es zur Wilhelmshöhe, wo alle Kivelinge vor dem Thronzelt Aufstellung nahmen. Dann war allgemeines Kaffeetrinken.
Um 20 Uhr begann der Festball. Punkt 23 Uhr marschierten die „wachhabenden Sektionen“ in Richtung Innenstadt. Über den weiteren Verlauf der Wachnacht schweigt die Dienstverordnung.
Der Pfingstdienstag (7.6.) begann wiederum um 7 Uhr mit einem Weckzug durch die Straßen der Innenstadt. 8:30 Uhr war Antreten auf dem Marktplatz und kurz vor 9 Uhr erfolgte der Vorbeimarsch am Königswagen. Goosmann bedauerte: „In Ermangelung von Degen und Gewehren grüßen Offiziere und Kivelinge beim Königswagen durch Abnehmen und Hochhalten der Mützen“. Anschließend zog der gesamte Verein zum Frühschoppen auf die Wilhelmshöhe.
„Einiger Ulk erwünscht“
Der Frühschoppen lief damals offenbar schon ebenso humorvoll ab wie heute, denn in der Dienstanweisung heißt es wörtlich: „Im Laufe des Frühschoppens ist einiger Ulk sehr erwünscht. Es wird erwartet, dass alle Sektionen und insbesondere die Offiziere sich hierauf präparieren, insbesondere auf Verulkung von Stadt und Zeitgeschehen.“ Goosmann schränkte aber ein: „Es ist angebracht, den Kommandeur jedoch vorher in etwa über einen beabsichtigten Scherz zu verständigen. Ausschreitungen irgendwelcher Art müssen unter allen Umständen vermieden werden.
Gegen 13.00 Uhr startete der Rückmarsch in die Stadt und alle gönnten sich erst einmal eine Mittagspause. Punkt 16.00 Uhr trafen sich die Kivelinge dann wieder auf der Wilhelmshöhe zu Vogelschießen. Gegen 18.00 Uhr sollte die Proklamation des neuen Königs erfolgen. Dann zogen sich König und Vorstand zur Wahl der Königin zurück. Anschließend wurde die Königen informiert und angeholt.
Der zweite Ball am Pfingstdienstag begann um 21. Uhr. Gegen 23.00 Uhr erschienen das alte Königspaar, Friedel Seemann und Gertrud Schulte, sowie das neue Königspaar Bernhard Koop und Erika Adelmann. Sie wurden feierlich begrüßte und führen dann die Polonaise an.
Für den Abschuss des Festes vermerkt die Dienstverordung:
„6 Uhr morgens Zug über die Rathaustreppe und letzter Walzer auf dem Marktplatz.
Mittwoch nachmittag Portemonnaiewäsche auf dem Haneken.“
Das Kivelingsfest markierte für Lingen das Ende der entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegsjahre. Die Not der Nachkriegszeit war überwunden. Wenn die Kivelinge wieder feiern konnten, dann war das Schlimmste überstanden und es konnte wieder aufwärts gehen. Insofern war dieses Ereignis wirklich eine Wendemarke im Schicksal der Stadt.