Helene Wessel – Zentrums-Frau als „Mutter des Grundgesetzes“
Helene Wessel (1898-1969) war zweifellos eine der bedeutendsten deutschen Politikerinnen des 20. Jahrhunderts und gilt als eine der vier „Mütter des Grundgesetzes“. Heute ist sie weithin vergessen, denn ihre politische Heimat, die katholische Zentrumspartei, versank in den 50er-Jahren in der Bedeutungslosigkeit. 75 Jahre Grundgesetz ist ein guter Anlass, einmal an diese engagierte Vertreterin des politischen Katholizismus zu erinnern.
1898 als Tochter einer katholischen Beamtenfamilie in Dortmund geboren trat sie 1915 eine Stelle als Sekretärin im Parteibüro der Zentrumspartei in Hörde an. Damit begann eine steile politische Karriere.
Nach dem Ersten Weltkrieg machte Wessel eine Ausbildung zur Jugend- und Sozialfürsorgerin und engagierte sich in der Zentrumspartei, für die sie 1928 als eine der ganz wenigen weiblichen Abgeordnete in den Preußischen Landtag einzog.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 unterbrach ihre politische Tätigkeit und sie wurde zunächst Sekretärin beim Katholischen Frauenbund und später Fürsorgerin beim katholischen Fürsorgeverein.
Nach Kriegsende schloss Helene Wessel sich erneut der katholischen Zentrumspartei an und wandte sich gegen die neue, konfessionsübergreifende CDU. Sie sah darin zu wenig katholisches Profil und kritisierte außerdem, dass dort auch frühere Nationalsozialisten eine politische Heimat fanden.
Im September 1948 wurde sie als eine der beiden Zentrumsvertreter Mitglied im Parlamentarischen Rat. Von den 65 Ratsmitgliedern waren nur vier Frauen, die man später als „Mütter des Grundgesetzes“ bezeichnete. Weil ihr die neue Verfassung aber nicht demokratisch genug erschien und sie die sozialen Grundrechte nicht ausreichend berücksichtigt sah, verweigerte sie am Ende der Beratungen ihre Zustimmung.
Im Herbst 1949 übernahm Helene Wessel den Bundesvorsitz des Zentrums und war damit die erste weibliche Vorsitzende einer Partei in der Bundesrepublik.
Am 7. August 1949 trat Helene Wessel auf der Lingener Wilhelmshöhe bei Wahlkampfveranstaltung des Zentrums für die anstehende Bundestagswahl auf. Doch auch in Lingen waren der Aufstieg der CDU und der Niedergang des Zentrums nicht mehr aufzuhalten. Bei der Wahl am 4. September kam der Lingener Zentrumskandidat Bauer Georg Dall aus Laxten nur auf den zweiten Platz. Abgeordneter des Wahlkreises Lingen-Bersenbrück im Bundestag wurde Heinrich Eckstein von der CDU, der im gesamten Wahlkreis weit vorne lag und auch im Raum Lingen die Mehrheit erhielt.
Wessel selber zog bei der Bundestagswahl 1949 für das Zentrum als direkt gewählte Abgeordnete des Wahlkreises Münster in das neue Parlament ein und übernahm dort auch den Fraktionsvorsitz des Zentrums. Innerhalb ihrer Partei betrieb sie die Bildung von Frauenausschüssen und trat für eine Frauenquote ein. 1948 setzte sie einen 20-Prozent-Anteil von Frauen für den Parteivorstand durch und forderte sichere Listenplätze für die Zentrums-Frauen.
Wessel lehnte die Wiederbewaffnung strikt ab. 1952 trat sie als Parteivorsitzende zurück und verließ die Zentrumspartei. Gemeinsam mit Gustav Heinemann, Johannes Rau und anderen gründete sie die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP), die aber bei den Wahlen an der neu eingeführten 5-Prozent-Hürde scheiterte. Wegen ihrer Ablehnung der Wiederbewaffnung war Wessel einem starken Druck der Medien ausgesetzt. Die katholische Kirche weigerte sich, sie wieder als Fürsorgerin zu beschäftigen. Daher wurde sie Sachbearbeiterin beim DGB in Düsseldorf.
1957 wechselte Wessel zur SPD und hatte von 1957 bis 1965 wieder ein Bundestagsmandat inne. Der mehrfache Parteiwechsel brachte ihr den Spottnamen „Helene Wechsel“ ein. Sie engagierte sich bei „Kampf dem Atomtod“, setzte sich für Völkerverständigung ein und stimmte 1968 gegen die Notstandsgesetze.