Tie ist nicht gleich Thing

Zur Konstruktion eines Geschichtsbildes

Funktion des Ties – beschrieben in Johann Aegidius Klöntrups „Alphabetisches Handbuch der besonderen Rechte und Gewohnheiten des Hochstifts Osnabrück. Mit Rücksicht auf die benachbarten westfälischen Provinzen, 3 Bde., Osnabrück 1798–1800“.

In Freren befand sich an dem Ort, der heute Uphusen-Eck genannt wird, früher der Tie. Auch in anderen Orten im Emsland gab es solche Plätze: In Gersten lag der Tie im 17. Jahrhundert auf dem Droper Esch, in Hummeldorf in der Ortsmitte. In Holte wird 1359 ein Hof „Tyhus“, in Lindloh zwischen 1410 und 1424 ein Hof „Tyemans“ bzw. „Tyemanshus“, in Wehm 1359 ein Hof „Tyghemannes“ erwähnt. Doch was ist eigentlich ein Tie oder Tieplatz? Und welche Funktionen hatte diese Örtlichkeit einst?

Verbreitung und Funktion der Tieplätze

Tieplätze gibt es nicht nur in Freren, sondern durchaus öfter in der näheren und weiteren Region. So hat auch die Stadt Rheine einen solchen und sogar einen Thieberg. Allerdings ist die Verbreitung der Tieplätze insgesamt begrenzt auf ein Gebiet, das sich von den östlichen Niederlanden über Westfalen und Ostfalen bis an die Elbe erstreckt. Im Rheinland kommen sie unter dieser Bezeichnung nicht vor, ebenso wenig in Hessen und Thüringen. Der Tie – auch niederdeutsch „Up’n Tigge“ genannt, vielfach in Straßen- bzw. Platzbezeichnungen als Thie geschrieben – war der Versammlungsplatz der Bauern und Nachbarn, an dem unter dem Vorsitz des Bauermeisters oder Bauerrichters über die Angelegenheiten der Gemeinheit beraten und das Bauergericht abgehalten wurde, in dem vor allem Flursachen (Holzfrevel, Viehweide, Flurnutzung, Wege- und Besitzstreitigkeiten etc.) zur Sprache kamen. Der Ausdruck Bauer hat dabei nichts mit dem ‚Bebauen des Ackers‘ zu tun, sondern gehört zum altniederdeutschen Tätigkeitswort bu(w)an ‚wohnen‘. Bur als zugehöriges Hauptwort ist somit die ‚Wohnung‘, das ‚Haus‘. Wir kennen diese Bedeutung noch im Wort Vogelbauer für den ‚Vogelkäfig‘. Der Bauer war somit ursprünglich der Besitzer eines Hauses, die Bauerschaft die Gemeinschaft der Hausbewohner, also die Nachbarschaft. Auf dem Tie hielt man aber nicht nur Gericht, sondern es wurden auch Festlichkeiten und Gelage begangen. Seine Bezeichnung leitet sich vom altniederdeutschen Wort tîhan ‚beschuldigen, anklagen, bezichtigen‘ her. Hochdeutsch entspricht zeihen – etwa noch in unserem heutigen verzeihen. Im Begriff spiegelt sich folglich seine rechtliche Funktion wider, die sich auch in den Quellen zeigt. So heißt es im ältesten Soester Stadtrecht, der sogenannten „Alten Kuhhaut“, aus der 1. Hälfte, fortgeführt in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts in den §§ 37 und 61: „judicibus illis, qui dicuntur burrihtere, in viculis illis, qui dicuntur ty“ und „hoc hii, qui dicuntur burrichtere, in suis conventionalibus, quod vulgo thy dicitur, judicare tenentur“. Diese Textstellen zeigen deutlich, was man sich unter einem Tie vorzustellen hat. Folgender Inhalt lässt sich den Passagen entnehmen: Tie (hier „ty“ oder „thy“) wird hier mit den lateinischen Wörtern viculus und conventio übersetzt. Es handelt sich also um eine Zusammenkunft der Bewohner einer Siedlung oder eines Stadtviertels unter Vorsitz eines Richters, der Burrichter („burrihtere“ / „burrichtere“) genannt wird.

Der Thieberg bei Rheine, hier auf der Preußischen Uraufnahme von 1842, hat seinen Namen ebenfalls von dem Gerichts- und Versammlungsplatz. Foto: GEOportal.NRW.

Germanischer Gerichts- und Kultplatz?

In heimatkundlichen Schriften und Ortschroniken wird allerdings immer wieder behauptet, dass die Tie-Plätze einst germanische Thing-Plätze, also vorchristliche Gerichts- und Kultstätten gewesen seien. Sprachlich ist das aber nicht möglich, weil Tie und Thing nur scheinbar gleich anlauten. Denn in Thing findet sich kein t, sondern ein alter Zahnreibelaut th, den das Altniederdeutsche noch aufwies und der sich bis heute in englisch thing ‚Ding‘ findet. Anders als im Englischen entwickelte sich dieses th im Hoch- und Niederdeutschen allerdings zu d, Thing also folgerichtig zu Ding. Wir kennen den Ausdruck in dieser rechtlichen Bedeutung noch in „dinglich“ oder „dingfest machen“. Der Brückenschlag zwischen Tie und Ding – in anachronistischer Schreibung Thing – hat aber schon eine gut 250jährige Tradition und einen berühmten Urheber. Diese Gleichsetzung lässt sich nämlich auf den Osnabrücker Juristen, Staatsmann und Historiker Justus Möser (1720–1794) zurückführen, der 1780 das Wort Tie falsch mit neuhochdeutsch zehn, angelsächsisch tīen zusammenbrachte und eine Beziehung zu den „Tythings“ ‚Zehntschaften germanischer Zeit‘ herstellte. Dieses angenommene hohe Alter der Tie-Plätze wurde im germanophilen 19. Jahrhundert bereitwillig aufgenommen und sollte weitreichende Folgen haben.

Instrumentalisierung im Dritten Reich

Wegen ihrer zentralen Lage wurden die Tie-Plätze im 20. Jahrhundert für politische Zwecke (propagandistische Kundgebungen oder Veranstaltungen) genutzt, wie der Volkskundler Rolf Wilhelm Brednich nachgewiesen hat. So schreibt er: „Für die Nationalsozialisten waren die niederdeutschen Tieplätze allein schon wegen des Namens und der Assoziation mit Thing ein willkommenes Werkzeug, das sich geradezu anbot, in die völkische Ideologie einbezogen zu werden. So haben sich bald nach 1933 verschiedene NS-Organisationen des Ties bemächtigt und sie für Veranstaltungen von Jungvolk, Hitlerjugend, SA etc. in Anspruch genommen. Dazu wurden teilweise umfangreiche Baumaßnahmen eingeleitet, die den ‚altdeutschen‘ Charakter der Plätze betonen sollten.“ Diese baulichen Veränderungen wurden in diesem Zusammenhang als „völkische Dorfaufrüstung“ bezeichnet. Im Zuge dieser Politisierung und ideologischen Instrumentalisierung wurde also eine historische Kontinuität zwischen den Tie-Plätzen und den germanischen Volksversammlungen – „Ding“ oder „Thing“ – konstruiert. Der nationalsozialistischen „Thing-Bewegung“ passten die Tie-Plätze, denen somit eine neue „völkische“ Bedeutung verliehen wurde, optimal als Veranstaltungsort im Dienst der „inszenierten Volksgemeinschaft“ in ihr Konzept eines an den Germanen orientierten Weltbildes. Das so propagierte Geschichtsbild von den Tie-Plätzen als angeblich ursprüngliche germanische Kult- und Gerichtsstätten wurde durch stetige Verbreitung in das historische Bewusstsein der Menschen gepflanzt – mit einer sehr nachhaltigen Wirkung bis heute! In Wirklichkeit waren sie aber nur einfache bäuerlich-nachbarschaftliche Versammlungs- und Rechtsorte, die erst im Hochmittelalter entstanden sind.