Leibeigenschaft schützt vor Karriere nicht

Der Nachlass des Hausvogtes Klaus Overfart

Es ist eine vielfach anzutreffende Ansicht, dass persönliche Unfreiheit in der Vergangenheit den sozialen Aufstieg einer Person verhindert habe. Allerdings hat die Geschichtsforschung in den letzten Jahren herausgearbeitet, dass trotz Leibeigenschaft verschiedenartige Lebensentwürfe möglich waren.[1] Dies zeigt auch der Lebensweg des Klaus Overfart, der der Nachwelt nur aus einem Schreiben des Tecklenburger Grafen Konrad (1501–1557) an den Grafen Anton von Oldenburg vom 21. Mai 1548 wegen des Nachlasses Overfarts überliefert ist.[2]

Erläuterung über die „Eigenschaft von Eigenhörigen“ für die niederländischen Beamten zu Lingen (1611). Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen, Grafschaft Tecklenburg, Akten, Nr. 424.

Overfart wurde in Recke in der Obergrafschaft Lingen geboren. Er stammte von einer Hofstätte, die den Tecklenburger Grafen eigenbehörig war. Später verließ Overfart den kleinen Ort, heiratete und stand in den Diensten der Oldenburger Grafen – und zwar als Hausvogt zu Neuenburg (Gemeinde Zetel, Landkreis Friesland; die Burg wurde 1462 errichtet).[3] Ein Hausvogt war der Verwalter eines „Hauses“, also eines herrschaftlichen Schlosses oder einer Burg, der grundsätzlich mit der Aufsicht über die Haushaltung betraut war.[4] In dieser Funktion verstarb Klaus Overfart um Ostern (umbtrent ostern) 1548. Da er zu diesem Zeitpunkt aber immer noch Tecklenburger Eigenbehöriger war, forderte Graf Konrad sein Erbteil. Dass der Tecklenburger Graf in diesem Fall erbberechtigt war, ergab sich aus den rechtlichen Verhältnissen der Eigenbehörigkeit, die zum Verständnis im Folgenden kurz skizziert werden sollen.

Die Eigenbehörigkeit

Bei der „Westfälische Eigenbehörigkeit“, einer speziellen Abhängigkeitsform von einem Herrn, die im späten Mittelalter entstand, war der Herr sowohl Grundherr als auch Leibherr. Das bedeutete zum einem, dass dem Herrn als Grundherrn die vom Bauern bewirtschaftete Stätte nebst Nutzflächen gehörte, wofür der Eigenbehörige Abgaben zu entrichten hatte. Ferner durfte der auf der Stätte sitzende Bauer nicht frei wirtschaften, also z.B. Ackerflächen erwerben oder veräußern. Zum anderen war der Grundherr aber auch Leibherr. Der abhängige Hörige durfte ohne Erlaubnis des Herrn seine Stätte nicht verlassen oder heiraten und hatte Frondienste sowie spezielle Abgaben zu leisten. Die Westfälische Eigenbehörigkeit bestand also aus einem grundherrlichen und einem leibherrlichen Element.

Allerdings hatten die Eigenbehörigen auch Rechte. So besaßen sie ein Erbrecht an der von ihnen bewirtschaften Stätte und hatten einen Anspruch auf persönlichen und rechtlichen Schutz durch den Herrn. Auch die auf einer eigenbehörigen Stätte geborenen Kinder, deren Eltern bzw. deren Mutter eigenbehörig war, waren persönlich unfrei. Da nur ein Anerbe die Stätte weiterbewirtschaften konnte, mussten die übrigen Geschwister im Erwachsenenalter den Hof verlassen und abgefunden werden. Dazu gehörte meistens der Freibrief, durch den sie aus der Hörigkeit entlassen wurden. Allerdings verloren die von dem Hof abgehenden Nachkommen durch den Freibrief auch ihren Erbanspruch an der Stätte. Es bestand daher auch die Möglichkeit, den Hof ohne einen Freibrief verlassen, um im Fall des Todes des Anerben, die Stätte übernehmen zu können. Diesen Weg wird auch Klaus Overfart gewählt haben, weil er bei seinem Tod immer noch Tecklenburger Eigenbehöriger war.

Aus dem leibherrlichen Element erwuchsen aber auch die sogenannten „ungewissen Gefälle“, also Abgaben, die gegenüber den „gewissen Gefällen“ nicht regelmäßig und oftmals unvorhergesehen gezahlt werden mussten. Zu den unberechenbaren Abgaben gehörte auch eine Zahlung beim Tode eines Eigenbehörigen, denn der Leibherr war bei seinem Eigenbehörigen erbberechtigt. Dieses Erbrecht des Herrn machte es notwendig, dass beim Ableben eines Eigenbehörigen der gesamte Nachlass aufgenommen werden musste, damit das Erbteil des Herrn bestimmt werden konnte.

Haus Neuenburg. Matthaeus Merian / Martin Zeiler, Topographia Westphaliae. Das ist, Beschreibung der Vornembsten, und bekantisten Stätte, und Plätz, im Hochlöbl: Westphälischen Craiße, Frankfurt a.M. 1647.

Der Nachlass

Aufgrund seines Erbanspruches ersuchte Graf Konrad von Tecklenburg den Grafen Anton von Oldenburg, ihm nach westfälischem Gebrauch das Hergewede und die Hälfte des nachgelassenen Gutes seines Leibeigenen Overfart zu überlassen. Unter dem Hergewede, eigentlich ‚Heergewand, Heerausrüstung‘, verstand man die persönliche Ausstattung eines heerfahrtpflichtigen Mannes, das als Eigentum des Herrn nach dem Tod des Mannes an den Herrn zurückfiel und an den Sohn oder Nachfolger des Mannes neu verliehen wurde. Zum Hergewede gehörten z.B. ein Pferd, ein Harnisch und ein herpol (‚Heerpfühl, Heerkissen‘). Das Hergewede konnte aber zumeist durch eine Geldzahlung abgegolten werden.[5]

Der Nachlass, den sich der Tecklenburger Graf mit der Witwe des Klaus Overfart zu teilen hatte, bestand aus einem anscheinend recht neugebauten Haus (ein nye husz), das Overfart zwischen der Neuenburg und der nahe gelegenen Windmühle erbaut hatte, zwei Ochsen, 12 Speckseiten, drei Kühen, dem Hausrat (ingedoempte des huses; ingedoempte = eigentlich ‚Eingeweide‘) sowie einer größeren Menge Bargeld (auch etliche barschaft).

Am Ende seines Lebens eine ziemlich beachtliche Summe für einen leibeigenen Bauernsohn!

Die Quelle

1548 Mai 21

Graf Konrad von Tecklenburg ersucht Graf Anton von Oldenburg, ihm nach westfälischem Gebrauch das Heergewäte und die Hälfte des nachgelassenen Gutes seines Leibeigenen, des verstorbenen Hausvogts zu Neuenburg Klaus Overfart, verabfolgen zu lassen.

Uns ist kurtzes glaubwurdig vurgekomen, wie einer unser eigenhorigen und vulschuldigen Claus Overfart genant, von unserm eigenhorigen erve in unser graveschafft Tecklenburg und kerspel Recke geboren, ewer liebden hauszvogt up der Nienborch kortzlich umbtrent ostern nach dem willen Gottes die schult der natur bezalet, eine eliche frouwen, ein nye husz, so er tuschen der windemollen und Nyenborch getymmert, 2 ossen, 12 sieden specks, 3 koihe, ingedoempte des huses, auch etliche barschaft hinder sich verlassen habe. Dweile er uns dan nach westphelischem gebruch und gewonheit eigen zustendig, derwegen uns nach seinem doitlichen abgangk das herweide und zugleich das halbe gut verfallen und verschennen, daromb dan hiemit an e[wer]. l.[iebden] unser gantz fruntlich beger, e. l. wollen jegenwortigem unserm gelobten dhiener und briefs zeiger fruntliche und gunstige furderung thun lassen, das er erstlich zum herweide und vortan zum halben teil des semptlichen gudes, wes des nhagelassen ist, kommen und emme zu unserm besten uberantwurt und mit freuntlicher furderunge uns anher zu liebbern verholffen werden muge, als des unser zu e. l. gantz freuntlichs vertrouwen und zuversicht ist. Sein es umb e. l., dye wir den almechtigen lange gesunt bevellen thun, in glichem und andern zu verschulden freuntlich geneigt. Datum montags nach Pfingsten anno etc. 48. Original, Papier, Verschlusssiegel und Aufschrift.[6]


[1] Die Literatur bei: Christof Spannhoff, „in Gnaden erlaßen und in völlige Freyheit gesetzet“. Freibriefe für Lienener Einwohner als genealogische und sozialhistorische Quelle, Norderstedt 2009.

[2] Oldenburgisches Urkundenbuch, bearb. v. Gustav Rüthning, 8 Bde., Oldenburg 1914–1935, Bd. 3: Urkundenbuch der Grafschaft Oldenburg von 1482 bis 1550, Nr. 801.

[3] Wilhelm Janssen, Burg und Schloß Neuenburg. Entstehungs- und Baugeschichte, Oldenburg 1978.

[4] Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtsprache, Bd. V: Handanlegen bis Hufenweizen (1960), Sp. 475–477.

[5] Leopold Schütte, Wörter und Sachen aus Westfalen 800 bis 1800, 2. überarb. u. erweiterte Aufl., Münster 2014, S. 360.

[6] Wie Anm. 2.