Zur Geschichte des Namens des Bundeslandes
In einem früheren Beitrag auf diesem Blog wurde die etwas ketzerische Frage gestellt, ob die Emsländer „westfälische Niedersachsen“ oder „niedersächsische Westfalen“ seien. Grundlage dieses Ansatzes ist die Erkenntnis, dass mit dem Namen Westfalen, der heute einen genau umrissenen Teil des Landes Nordrhein-Westfalen benennt, vor 1800 noch eine weitaus größere Region gemeint war, die zwar keine genaue Abgrenzung besaß, aber doch das Emsland und das Osnabrücker Land einschloss.
Das Bundesland Niedersachsen. Quelle: www.niedersachsen.de
Doch wie ist eigentlich die Bezeichnung „Niedersachsen“ entstanden? Der Landkreis Emsland gehört ja seit der Gründung zu dem so betitelten Bundesland. Der Name Niedersachsen ist aber natürlich nicht erst 1946 gebildet worden, sondern hat ältere Wurzeln. Wo liegen diese?
Aus Sachsen wird Ober- und Niedersachsen
Fragt man heute, wie alt Niedersachsen ist, dann lässt sich die Antwort nicht so leicht geben. Das Bundesland in seiner heutigen Form gibt es erst seit 1946. Aber eine Vorstellung von „Niedersachsen“ ist viel älter – und zugleich sehr vielschichtig. Nach bisherigem Kenntnisstand taucht der Begriff „Niedersachsen“ („neder zassen“) erstmals in einer niederländischen Reimchronik auf, die zwischen 1278 und 1284 geschrieben wurde. Er geht zurück auf das mittelalterliche Herzogtum Sachsen und dieses wiederum auf die frühmittelalterliche Bevölkerungsgruppe der Sachsen, die in Nordwestdeutschland lebte.
Das Herzogtum Sachsen um das Jahr 1000. Quelle: www.niedersachsen.de
Das Herzogtum Sachsen zerfiel im Jahr 1180 mit dem Sturz Heinrichs des Löwen aus der Adelsfamilie der Welfen. Der Titel „Herzog von Sachsen“ gelangte in der Folge an das Adelsgeschlecht der Askanier (und später der Wettiner), das in verschiedenen Linien Territorien an der Elbe regierte und seinen Herrschaftsschwerpunkt im Raum Meißen besaß. Im Gegensatz zu diesem neuen „Obersachsen“ bildete sich die Bezeichnung „Niedersachsen“ für die nördlicher gelegenen Gebiete. Eine feste Grenze oder gar ein Territorium verband sich mit dem Namen jedoch nicht. Es war mehr oder weniger eine Landschaftsbezeichnung. Später existierte von 1512 bis 1806 der sogenannte „Niedersächsische Reichskreis“. Er war vor allem eine Verwaltungseinheit zur Wahrung des Friedens und hatte nur wenig mit einer gemeinsamen Identität der Menschen in Nordwestdeutschland zu tun. Für diese zählten vielmehr die kleinen Fürstentümer und Grafschaften, in denen sie lebten – von Braunschweig-Wolfenbüttel bis Schaumburg-Lippe. Als „Niedersachse“ hätte sich damals wohl niemand selbst bezeichnet.
Der Niedersächsische Reichskreis. Quelle
Die „Wiederentdeckung“ der Germanen im 19. Jahrhundert
Erst im 19. Jahrhundert bekam der Name Niedersachsen neuen Auftrieb. Nach den napoleonischen Kriegen suchte man in Deutschland nach einer übergreifenden Identität, die über die engen Grenzen der Fürstenstaaten hinausreichte. In dieser Zeit wurde die Beschäftigung mit den „alten Germanen“ populär. Dichter und Historiker wie Ernst Moritz Arndt oder Ludwig Jahn deuteten sie als Vorfahren der deutschen Nation. Auch in Hannover griff man diese Strömung auf: 1835 entstand der „Historische Verein für Niedersachsen“.
Doch diese „Niedersachsen-Idee“ blieb stark auf das Königreich Hannover konzentriert und diente oft als Gegenbild zu Preußen. In Braunschweig oder Oldenburg hingegen fand sie wenig Anklang. Dort fürchtete man eher eine Vereinnahmung durch Hannover, als dass man sich mit dem Gedanken eines gemeinsamen „Niedersachsens“ identifiziert hätte.
Das Königreich Hannover 1815. Quelle: www.niedersachsen.de
Von der Idee zur politischen Realität
Nach dem Ende des Königreichs Hannover 1866 blieb die Niedersachsen-Idee eng mit dem Wunsch nach Eigenständigkeit verbunden. Noch im Kaiserreich (nach 1871) gründete sich die Deutsch-Hannoversche Partei, die eine Wiederherstellung des Königreichs forderte – allerdings vergeblich. Mit dem Ende der Monarchien 1918 in Deutschland schien die Niedersachsen-Idee endgültig gescheitert.
Und doch lebte sie weiter – nun als föderaler Gedanke. In der Zwischenkriegszeit diskutierte man vermehrt, ob aus den vielen kleinen Ländern im nordwestdeutschen Raum nicht ein größeres Bundesland entstehen sollte.
1946 – Niedersachsen wird Wirklichkeit
Die entscheidende Stunde kam im Herbst 1946. Die britische Besatzungsmacht fasste die Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe zu einem neuen Bundesland zusammen. Am 9. Dezember 1946 trat der erste niedersächsische Landtag zusammen. Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf ließ keinen Zweifel daran, dass Niedersachsen mehr sei als ein bloßes „Kunstprodukt“ der Siegermächte. Für ihn war das Land „durch die Stammesart seiner Bewohner, durch seine gleichartige Struktur, Tradition und wirtschaftliche Geschlossenheit ein organisch gewachsenes Ganzes“. Rückblickend wirkt diese Sichtweise recht gewagt. Denn die Vorstellung eines niedersächsischen Raumes war zuvor über Jahrhunderte alles andere als selbstverständlich. Erst durch die politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts und die Entscheidung der Alliierten entstand ein Land, das heute über acht Millionen Menschen Heimat ist. So ist Niedersachsen zugleich jung und alt: jung als Bundesland der Nachkriegszeit – und alt, weil sein Name weit ins Mittelalter und seine Idee als sinnstiftende Einheit in die Zeit der Romantik im 19. Jahrhundert zurückreichen.



