6. Dezember 2020
Immer wieder gelangen aus privaten Nachlässen Gegenstände in Museumssammlungen. Die Initiative geht dabei häufig nicht von den Museen aus, sondern von den Eigentümern oder ihren Erben. Sie entscheiden, warum
sie viele Dinge in den Container werfen und andere einem Museum anbieten. Die Beweggründe sind dabei so vielschichtig wie die Auswahlkriterien und für Sammlungsprofis nicht immer nachvollziehbar. Denn die Beziehungen von Menschen zu Dingen sind bekanntlich ein weiters Feld.
Am 6. Dezember ist der Nikolaustag und da kommt der Heilige Mann in vielen Orten in die Schulen und Kindergärten, in Vereinslokale und Betriebe oder er geht sogar von Haus zu Haus und besucht die Familien. Man erkennt ihn an seinem Bischofsgewand mit Bischofsstab und Bischofsmütze, seinem weißen Bart und weißen Handschuhen – und an seinem großen, goldenen Buch. Sein Begleiter ist Knecht Ruprecht, mit der Rute. Wer jetzt beim Lesen nicht zusammenzuckt und nicht weiß, was es damit auf sich hat, an dem ist eine traditionelle Kindheitserfahrungen vorübergegangen.
Früher zitterte jedes Kind, wenn es beim Besuch des Nikolauses nach vorne gerufen, zum Aufsagen eines Gedichtes aufgefordert und dann zur „Abrechnung“ für das vergangene Jahr herangezogen wurde. Und dabei half das große Buch, in dem zumeist kleine, aber doch markante Vergehen der zwölf vergangenen Monate zu jedem einzelnen Kind aufgeschrieben waren. Die musste der Heilige Mann das ganze Jahr über penibel aufgeschrieben haben – oder die Eltern hatten ihm heimlich einen entsprechenden Zettel zugesteckt.
Es war an einem heißen Tag im August in einem kleinen Haus am Rande der Stadt, in dem sich über mehrere Generationen so Allerhand angesammelt hatte: unzählige Bücher und Zeitschriften, Hausrat von einst, alte und neue Textilien, aber auch ein paarhundert leere Zigarrenkisten, einige hundert Andachtsbildchen und Totenzettel, Liebesbriefe diverser Verbindungen, Fotoalben und die üblichen ausrangierten, aber theoretisch noch voll funktionsfähigen Elektrogeräte vergangener Jahrzehnte.
„Sie können ALLES mitnehmen, wenn Sie wollen“, sagt der junge Mann. Aber ALLES wollen Museen nicht. Wer die Wahl hat, hat die Qual.
Also vor dem geistigen Auge mal kurz den eigenen Wunschzettel durchgehen: Reservistenandenken aus dem Kaiserreich, am besten namentlich gekennzeichnet. Devotionalien aus Telgte oder Lourdes, Rom oder gar Jerusalem. Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus, Objekte aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Raritäten oder Kuriosa aus den 50er, 60er, 70er-Jahren…
Und dann lag da dieses dicke Buch mit einem roten Schutzumschlag, beklebt mit einem Kreuz aus Goldpapier und mit einer schönen Kordel dran. „Die haben auch viel Theater gespielt, meine Tanten“, meinte der junge Mann. – Nein, nein. Blitzartig sprang der Gedanke um von einem sonnigen Augustnachmittag auf den dunklen Abend des 6. Dezember: Dies musste es sein, das goldene Buch des Heiligen Mannes! Und jetzt endlich die Möglichkeit, die Seite zu wechseln, es selber in die Hand zu nehmen und einen Blick in das Mysterium zwischen den beiden Buchdeckeln zu werfen.
Normalerweise nahm man für das Buch vom Nikolaus früher ein Telefonbuch, das mit Goldpapier eingeschlagen wurde. Das war schön dick und schwer. Und so groß war die Auswahl in den meisten Bücherschränken damals ja auch nicht. Dieses war jedenfalls kein Telefonbuch – es war kleiner, aber viel, viel dicker. Und beim Aufklappen erschien eine altertümliche Schrift. Eine Bibel? Nein, der Band entpuppte sich als Gesetzesblatt des altehrwürdigen Königreiches von Hannover. Der komplett eingebundene Jahrgang von 1853, samt Dienststempel irgendeiner königlichen Behörde, die solche Gesetze damals dringend brauchte.
Jede Menge Zettel steckten auch noch drin, darauf der Ablauf des Besuchs – manchmal detailliert mit allen Liedern und Gedichten, manchmal nur ein paar Stichworte, die dem erfahrenen Nikolaus schon reichten. Dann die Zettel mit den Namen der Kinder – ja nicht verwechseln!
„Zu unseren Kindern:
Die grössere heisst Barbara oder auch Bärbel, geht zum Kindergarten. Sie kann sehr gut lernen, kann Gedichte und Lieder vom Nikolaus. –
Müsste etwas besser gehorchen, auch wenn Oma und Opa etwas sagen.
Sie darf nicht so schnell beleidigt sein und dann gleich weinen. –
Abends allein schlafen gehen mit 5 Jahren müsste sie auch. –
(War kürzlich etwas krank, hatte eine Entzündung an der Hand und der Fingernagel musste abgenommen werden. –
Die kleinere heisst Gabriele, geht ebenfalls zum Kindergarten, kann auch gut lernen und Lieder und Gedichte vom Nikolaus. –
Sie kann sehr leicht böse sein, und ist trotzig, müsste etwas besser essen und darf vor allem im Schlaf nicht das Däumchen nehmen.
Muss sich ebenfalls besser mit der Schwester vertragen und nicht gleich schlagen, wenn sie ihren Willen nicht bekommt.
Auch darf sie nicht alles zerreissen und kaputtmachen (Bilderbücher, Püppchen usw.,
wird am 28.12. vier Jahre alt.
Ihr Bernd C.“
In diesem Einband steckten mehr als nur 12 Monate hannoverischer Justizbürokratie in rotem Samt und Goldpapier. Hier war das Nikolausbrauchtum der Nachkriegszeit dokumentiert – vom Zettel aus Behelfspapier der Notzeit über solides Briefpapier der 50er-Jahre bis zu leeren Karteikarten der späten 60er. Ein Schatz für jeden Brauchtumsforscher und eine wehmütige Erinnerung an Kindheitstage für alle, die einst vor dem Nikolaus und vor Knecht Ruprecht strammstehen mussten.
Die Rute war übrigens nicht mehr auffindbar, auch nicht der große Sack. Schon gar nicht die Bischofsmütze oder der weiße Bart. Man kann halt nicht ALLES haben.
Am 6. Dezember liegt das dicke Buch nun als Bestandteil unseres diesjährigen Adventskalenders im Schaufenster des Emslandmuseums. Es erzählt eine Geschichte – vom Nikolaus, von damals und von der Bedeutung des Buches, im Allgemeinen wie im Speziellen.
(Für das Buch vom Nikolaus danken wir Frau Wilken aus Lingen)