Wie die Atomkraft nach Lingen kam

Sechs Jahrzehnte Nutzung der Kernenergie in Lingen

1968 ging das erste Kernkraftwerk Lingen ans Netz

Vor 55 Jahren wurde das Kernkraftwerk Lingen in Betrieb genommen, vor 35 Jahren folgte das Kernkraftwerk Emsland, das jetzt vom Netz geht. Wir blicken zurück auf sechs Jahrzehnte Atomenergie in Lingen.

Baustelle des ersten Kernkraftwerkes Lingen 1966

Schon in den 50er-Jahren erwarb der westfälische Elektrizitätsversorger VEW in der Gemeinde Darme an Ems und Kanal Grundflächen für einen möglichen Kraftwerkstandort. Das Unternehmen wollte beim damals aufgelegten deutschen Atomprogramm den Anschluss nicht verpassen und errichtete daher ab 1962 in Darme das Atomkraftwerk Lingen, das 1968 in Betrieb ging.

Reaktorkern im Kernkraftwerk Lingen 1966

Es handelte sich um eine kombinierte Anlage aus einem nuklearen Teil mit einem Siedewasserreaktor, ergänzt um einen sogenannten Überhitzer, der mit schwerem Heizöl befeuert wurde. In beiden Teilen kam es baubedingt zu häufigen Störungen und Betriebsunterbrechungen. 1977 beschloss die VEW vorläufig und 1979 endgültig, dieses Kraftwerk abzuschalten.

Blick vom Gaskraftwerk auf das erste Kernkraftwerk Lingen, um 1980

Zur Stromerzeugung hatte der Konzern dort 1974 ein Gaskraftwerk mit mehreren Blöcken errichtet, das gleichzeitig die Faserwerke im Industriepark Süd mit Wärme versorgte. Wegen der steigenden Gaspreise entschied sich die VEW Anfang der 80er-Jahre für den Bau eines neuen Atomkraftwerkes.

Baustelle des Kernkraftwerkes Emsland, 1986

Da in ihrem Hauptversorgungsgebiet in Westfalen zu diesem Zeitpunkt ein Kernkraftwerk politisch kaum noch durchsetzbar war, kam das niedersächsische Lingen als Standort ins Spiel. Ab 1982 errichtete die Firma Siemens für die VEW im Industriepark Süd das Kernkraftwerk Emsland, einen Druckwasserreaktor moderner Bauart mit hohem Sicherheitsstandard.

Demonstration an der Baustelle des Kraftwerks im Herbst 1986

Während der Bauzeit kam es 1986 zur Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Die Stimmung gegenüber der Atomkraft in breiten Kreisen der Bevölkerung änderte sich. Im Herbst 1986 organisierten Atomkraftgegner an der Baustelle des Kraftwerks sowie in der Lingener Innenstadt Großdemonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern.

Anto-AKW-Demonstration in Lingen im Herbst 1986

Noch heißer kochte die Stimmung, als 1987 durch die Tschernobylkatastrophe verseuchte Molke aus Bayern in Lingen entsorgt werden sollte. „Zur Hölle mit der Molke“ hieß es damals und bei einem Bürgerbegehren votierten über 11.000 Wahlberechtigte gegen die Entsorgung der Molke in Lingen. Die Anti-Atomkraft-Bewegung formierte sich nun auch vor Ort und bei einer Großdemonstration im November 1987 kamen tausende Menschen auf den Marktplatz. Man wollte, so hieß es, „in Lingen nicht die Müllkippe der Nation“ werden. Der damalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer und sein niedersächsischer Kollege Dr. Werner Remmers schalteten sich in die Diskussion ein. Die Ratsmehrheit entschied sich am Ende für die Molkeaufbereitung in Lingen und ab 1988 wurde in den Gebäuden des alten Kernkraftwerkes an der Schüttorfer Straße die Entsorgung der Molke durchgeführt. Das gewählte Verfahren erwies sich als wirkungsvoll und sicher.

Der Reaktor-Druckbehälter beim Einbau 1987

1988 ging das neue Kernkraftwerk ans Netz. Die Technik war zuverlässig und der Betrieb verlief weitgehend störungsfrei.

Turbinenhaus (1987)
‚Leit- und Schaltzentrale‘ (1987)
‚Leit- und Schalt-Zentrale‘ 1987
Im Sicherheitsbehälter (1987)

Im Jahr 2002 beschloss die Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder eine Änderung des Atomgesetzes und eine Laufzeitbegrenzung auf maximal 32 Jahre. Damit war das Ende der Atomkraft in Deutschland besiegelt und mehrere Kraftwerke gingen vorzeitig vom Netz.

Das Kraftwerk Emsland (1988)

Die neue Bundesregierung unter Angela Merkel brachte 2010 ein verändertes Energiekonzept durch den Bundestag. Es sah Laufzeitverlängerungen für die Atomkraftwerke und eine Erweiterung der Produktionsmenge vor. Bei der RWE, die im Jahr 2000 ihren Konkurrenten VEW übernommen hatte, knallten die Sektkorken. Doch kann kam es 2011 zur Reaktorkatastrophe in Fukushima und zum Atom-Moratorium der Regierung Merkel. Mehrere ältere Atomkraftwerke wurden sofort abgeschaltet oder in den folgenden Jahren außer Betrieb genommen. Nur wenige Kernkraftwerke in Deutschland blieben noch in Betrieb und als eines der letzten sollte Lingen zum Jahresende 2022 außer Betrieb gehen.

Notausgang mit Druckschleuse (1987)

Durch den russischen Überfall auf die Ukraine kam es nach längerer Diskussion zu einer Laufzeitverlängerung, doch nur um wenige Monate. Am Samstag, dem 15. April 2023, geht das Kernkraftwerk Emsland in Lingen nach 35 Jahren Laufzeit vom Netz.

Foto: Archiv Emslandmuseum, Fotobestand Manfred Münchow, u.a.