Nachkriegskanzler machte 1955 Wahlkampf im Emsland
Dr. Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, wurde rasch zu einer Symbolfigur für den Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und das deutsche Wirtschaftswunder. Im April 1955 besuchte er zu einer Wahlkampfveranstaltung der CDU die Stadt Lingen.
Am 24. April standen die Wahlen zum Niedersächsischen Landtag an und die CDU gab Vollgas. Ein wichtiger Streitpunkt mit der SPD-Landesregierung war das geplante Niedersächsische Schulgesetz, das eine „christliche Schule“ als Regelschule vorsah. Dagegen pochten die Katholiken auf den Fortbestand ihrer Konfessionsschulen und beriefen sich dabei auf das sogenannte „Reichskonkordat“ von 1933, das der Heilige Stuhl ausgerechnet mit Adolf Hitler geschlossen hatte. Die Wellen schlugen hoch und der Schulstreit entwickelte sich in den katholischen Landesteilen zu einer großen Protestwelle gegen die Landesregierung und die SPD. In dieser Situation kündigte Adenauer für den 15. April, eine Woche vor der Wahl, seinen Besuch in der CDU-Hochburg Lingen an.
Erste Pläne, die Veranstaltung auf der Wilhelmshöhe durchzuführen, erwiesen sich als zu eng gefasst, denn nach Bekanntgabe des Termins kündigten sich zahlreiche Besucher aus dem Emsland und den umliegenden Landkreisen an, die den populären Bundeskanzler einmal live sehen wollten. So wurde der Event auf den Marktplatz verlegt. Dafür musste die Innenstadt ab mittags für den Durchgangsverkehr gesperrt werden, denn eine Fußgängerzone gab es damals noch nicht.
Adenauer traf am frühen Nachmittag mit einem Sonderzug am Bahnhof ein und wurde von dort mit der legendären Kanzlerkarosse, einem Mercedes 300, die wenigen hundert Meter zum Marktplatz gefahren.
Ein Mädchen aus Nordhorn, Renate von Lewicki, die Tochter des CDU-Kreisgeschäftsführers in der Grafschaft, überreichte dem Bundeskanzler einen Blumenstrauß.
Sie wurde begleitet von der Familie des Bentheimer Bundestagsabgeordneten Heinrich Barlage. Mit von der Partie war auch Rechtsanwalt Dr. Albert Tillmann aus Nordhorn, der zu den Textildynastien Niehues&Dütting (NINO) sowie Brenninkmeyer (C&A) gehörte.
Vorredner des Kanzlers waren der CDU-Landtagsabgeordnete Clemens Hesemann, der von der katholischen Zentrumspartei zur überkonfessionellen CDU gewechselt war, sowie der aktuelle Landtagskandidat Heinrich Kuhr, eines der ersten Mitglieder der CDU im Emsland.
Adenauer wetterte gegen das SPD-Schulgesetzt, lobte den Eintritt Westdeutschlands in die NATO als Friedensprojekt und verlangte gleichzeitig die Eingliederung der „Sowjetzone“ (DDR) in die Bundesrepublik. Die Kundgebung endete, wie bei CDU-Veranstaltungen üblich, mit der Nationalhymne.
Anschließend wurde Adenauer im alten Rathaus von Vertretern der Stadt und des Landkreises empfangen und trug sich in das Goldene Buch der Stadt ein. Bürgermeister Koop verwies auf den Emslandplan, von dem er sich auch positive Auswirkungen auf die Stadt Lingen erhoffte. Außerdem wurde über den geplanten Rathausneubau gesprochen. Adenauer riet dazu, besser in dem beengten Altbau am Marktplatz zu bleiben – dem Vernehmen nach, um damit einer allzu dynamischen Ausweitung der Bürokratie vorzubeugen.
Eine Woche später ging aus der Landtagswahl die SPD als stärkst Partei in Niedersachsen hervor, sie verlor aber den Posten des Ministerpräsidenten an Heinrich Hellwege von der Deutschen Partei, der von einer breiten Koalition unter Beteiligung der CDU getragen wurde. Die SPD ging in die Opposition.