Fabrik an der Meppener Straße 1945 durch Tiefflieger zerstört
1905 entstand auf einem großen Grundstück im Norden von Lingen zwischen der Meppener Straße und dem Dortmund-Ems-Kanal die „Papier- und Holz-Bearbeitungs-Gesellschaft m.g.H.“. Zweck des Unternehmens an der Meppener Straße Meppener Straße 102-104 war die Herstellung von Papierhülsen für die Textilindustrie, Kunststoffindustrie, Papierindustrie und die Chemische Industrie.
Eine frühere Mitarbeiterin, die mittlerweile verstorbene Wilma Lieftink, hat eine Chronik dieses Lingener Unternehmens ausgearbeitet, die kürzlich dem Emslandmuseum übergeben wurde. Der Text der Chronik wurde für die Veröffentlichung auf diesem Blog geringfügig überarbeitet und ergänzt.
Gesellschafter des Unternehmens waren die Lingener Kaufleute August Klukkert und August Löning sowie der Apotheker Stöve (Alte Marktapotheke) und der Rechtsanwalt Müller sowie der Kaufmann Emil Gottschalck, der ab 1922/23 an der Wilhelmstraße 8 wohnte. Weitere Gesellschafter waren die Textilunternehmen Gerrit van Delden & Co. in Gronau, die Grevener Baumwollspinnerei in Greven und die Textilwerke Gebrüder Laurenz in Ochtrup.
Die Betriebsgebäude umfassten eine Größe von etwa 5.000 Quadratmetern. Sie bestanden aus einer Fabrikhalle mit dem typischen Sheddach, offenen Lagerhallen, einem Kesselhaus sowie einer Werkstatt. Die Anfangs geplante Produktion von Holzspulen ist wohl nie aufgenommen worden, so dass der Name „Holzbearbeitungs-Gesellschaft“ irreführend war.
Die Kleinbahn Lingen-Berge-Quakenbrück transportierte die waggonweise angelieferten Rohstoffe (überwiegend Papierrollen) von der Reichsbahn-Güterabfertigung am Bahnhof zum Kleinbahnhof, von dort über das Anschlussgleis über den heutigen Willy-Brand-Ring und dann in einem großen Bogen hinter den Gärten am Friedensweg her zum Gelände von Papier und Holz.
Dort wurde umgeladen und die Papierhülsen, die in Holzkisten verpackt waren, als Rückfracht mit der Kleinbahn zur Güterabfertigung transportiert. Zum Wochenende wurden waggonweise Kohlen angeliefert für das Kesselhaus. Abladen auf freiwilliger Basis á Person RM 5,–.
Kleinere Sendungen wurden per Pferdefuhrwerk direkt zur Güterabfertigung gebracht, einmal vormittags, einmal nachmittags. Papier und Holz hielt ein eigenes Pferd. Auf dem hinteren Gelände hat lange ein Pferdestall gestanden. Nachdem die Kleinbahn zu Anfang der 50er-Jahre den Betrieb eingestellt hatte, übernahm die Spedition Gers die Fuhrgeschäfte.
Weil Wohnungen knapp waren, hatte die Firma entlang der Meppener Straße etliche Wohnhäuser errichtet bzw. erworben. In den Häusern Nummer 97, 99, 111, 113, 127, 128, 129, 131, 133 und 135 wohnten hauptsächlich Werksangehörige mit ihren Familien.
Am 2.3.1938 verunglückte der Sohn von Direktor Gottschalck, der als Nachfolger des Vaters vorgesehen war, und der Nachbar van Kampen, Wilhelmstraße, tödlich. Außerdem waren noch zwei Betriebsangehörige in dem Auto, 1 Schwerverletzter, 1 Leichtverletzter. Das Unglück geschah auf der Meppener Straße in Höhe des Ulmenweges. Geschäftsführer Emil Gottschalck ging 1942 in Rente. Er war inzwischen verwitwet und zog zu seiner Tochter nach Eupen. Als Nachfolger wurde Kaufmann Willy ter Balk, Gronau, vom Aufsichtsrat zum Geschäftsführer bestellt. Er zog mit seiner Frau von Gronau nach Lingen, um in das Haus der Firma Papier und Holz, Wilhelmstraße 8, einzuziehen.
In den Jahren 1942 bis 1945 wurde die Produktion teilweise eingeschränkt, weil immer mehr männliche Mitarbeiter zum Kriegsdienst eingezogen wurden und der Betrieb nicht als „kriegswichtig“ eingestuft wurde. Fast täglich war in den letzten Kriegstagen Fliegeralarm. Die zum Teil an der Meppener Straße wohnenden Betriebsangehörigen eilten in den Keller ihrer Wohnungen, die durch Holzstämme abgestützt und durch verkleidete Kellerfenster zu Luftschutzkellern umgebaut waren.
Auf dem rückwärtigen Gelände, zum Kanal hin, war ein Bunker gebaut worden. Dicht gedrängt suchten wir bei Fliegeralarm dort Schutz. Der Bunker diente auch als Unterkunft der Nachwachen, die laut gesetzlicher Verordnung bei eventuellen Bombenangriffen sofort die ersten Hilfsmaßnahmen einleiten sollten. Auf dem verhältnismäßig großen Gelände sollten Bombenschächte für die Rüstungsindustrie gebaut werden. Die Geschäftsleitung hat sich dagegen entschieden gewehrt, nach vielen Bemühungen auch mit Erfolg. Unsere Befürchtungen war, dass Papier und Holz und Lingen umsomehr von den Engländern als Bombenziel angeflogen würden. Die „Nazis“ ließen nicht locker. Alle mussten zum Endsieg beitragen. So wurde dann von der Firma Rawe & Co., Nordhorn, ein Strang Nähmaschinen aufgestellt, um Kartuschbeutel zu nähen.
Eines Tages und ganz überraschend wurde dann noch eine Kompanie Soldaten in der Packerei untergebracht. Einige Flakgeschütze standen auf dem Gelände. Die Kompanie sollte sich hier sammeln und auf den Einsatzbefehl warten, um im Westen den Gegensturm der Alliierten aufzuhalten. Die Soldaten waren nicht kleinlich. Sie wurden noch gut versorgt mit Lebensmitteln, da sie als „Kampftruppe“ eingestuft waren. Davon gaben sie den Betriebsangehörigen gerne etwas ab.
Das letzte, was wir noch als Kriegsdienst für Adolf Hitler tun mussten: Der gesamte Betrieb wurde einen Tag stillgelegt und bei Elbergen zum Schanzen eingesetzt. In den Gräben sollte sich unsere Flak schützen.
Über das weitere Schicksal der Fabrik bei Kriegsende und in der Nachkriegszeit berichtet ein Zeitungsartikel im Lingener Volksboten vom 28.2.1951:
Wann raucht der Schornstein wieder?
Kredithilfe für den Wiederaufbau der Papier- und Holzbearbeitungsfabrik notwedig
Lingen. Der 30 Meter hohe Schornstein auf dem Fabrikgelände der Papier- und Holzbearbeitungsgesellschaft mbH an der Meppener Straße qualmte im März 1945 zum letzten Male. Wenige Tage später näherten sich von Wachendorf her die englischen Truppen, stießen am Kanal auf Widerstand und setzten dabei Tiefflieger ein. Hierbei geriet die Fabrik in Brand, der die gesamte Anlage vernichtete.
Die Versuche der Arbeiter und Angestellten, noch zu bergen was zu retten war, wurde von den Alliierten verboten; ebenfalls das Betreten des Geländes durch jeden Deutschen. Einige Wochen später erschien eine kanadische Pionierkompanie und ebnete mit ihren motorisierten Ramm-Maschinen große Teile des Mauerwerks ein, das rauchgeschwärzt stehen geblieben war. Lastkraftwagen holten Schutt und Gestein zum Straßenbau ab. Seit diesem Zeitpunkt wachsen auf dem 13 000 Quadratmeter großen Werksgelände an vielen Stellen zwischen den stehengebliebenen Grundmauern wilde Pflaumenbäume, und die ausgeglühten Spezialmaschinen tragen eine dicke Rostschicht.
Die Nachkriegsgeschichte dieser Fabrik, die im Jahre 1905 gegründet wurde und vor dem Kriege mit einem Stammpersonal von 120 Mann im Jahr eine Million Kilo Papierhülsen für Spinnereibetriebe anfertigte, ist die vieler zerstörter Fabrikanlagen, Geschäfte, Handwerks- oder Landwirtschaftsbetriebe. Ohne jede Kompensationsmöglichkeit war die Betriebsleitung der Papier- und Holz-GmbH auf den Dienstweg angewiesen. Und was das heißt, können nur die beurteilten, die in der Vorwährungsreformzeit zum Wiederaufbau ihres zerstörten Besitzes nichts weiter als gute Nerven und einen großen Optimismus besaßen. Der Fabrikleitung gelang es zum Tage X lediglich, inmitten der zerstörten Anlage, die einmal 4997 Quadratmeter bebaute Fläche umfasste, eine größere Halle wiederaufzubauen und mit einigen Maschinen die Produktion wieder aufzunehmen.
Dann kam der Währungsschnitt und damit der Kampf um die Kreditbewilligung: aber leider ohne Erfolg. Die Stadt Lingen kann mit Recht den Ruf für sich in Anspruch nehmen, daß sie Initiative besitzt und für ihre wirtschaftliche Entwicklung etwas tut. In den Nachkriegsjahren hat sie es wiederholt bewiesen, wie groß ihr Interesse an der Heranziehung industrieller Einrichtungen ist. Im Fall der Papier- und Holzbearbeitungsfabrik wird ein wesentliches Interesse an einem möglichst schnellen Wiederaufbau noch vermißt. Bei Vorsprachen ist es lediglich bei Versprechungen geblieben, verschiedene Kommissionen führen Besichtigungen durch und waren erstaunt, das Gelände noch immer in diesem trostlosen Zustand vorzufinden. Sonst aber geschah nichts.
Hat denn die Stadt tatsächlich ganz vergessen, daß diese Fabrik vor dem Kriege zu ihren größten Steuerzahlern gehörte und schon des öfteren günstige Verlagerungsangebote abgewiesen hat? Hier müßte einmal nach dem Rechten gesehen werden, und zwar nicht nur mit Besichtigungen und Versprechungen, sondern mit dem ehrlichen Willen, wirklich helfen zu vollen. Eine entsprechende Kredithilfe würde sich sehr bald bezahlt machen. Denn heute schon arbeitet wieder eine beträchtliche Anzahl von Maschinen. Trotzdem kann die Produktion die Nachfrage nicht befriedigen. Solange aber die Fabrik auf Kredithilfe aus öffentlicher Hand verzichten muß, wird sich der Wiederaufbau des Unternehmens nur nach dem Anfall des Reingewinns richten können.
Das sicherste Kapital aber, daß das Unternehmen sein eigen nennt, ist die treue Gefolgschaft, die zum Teil Jahrzehnten in der Fabrik tätig ist und sich aufs engste mit ihre verbunden fühlt. Sie kennt die Sorgen und Schwierigkeiten des Wiederaufbaus aus eigenem Miterleben und weiß, daß sie vorerst schwerlich mit Gehaltsaufbesserungen rechnen kann, solange nicht auch die restlichen Maschinen wieder unter einem schützenden Dach ihre Produktion aufgenommen haben.“
Zeitungsartikel Lingener Volksbote 19. August 1953
Warum will der Staat nicht helfen?
Kreditgesuche der Papier- und Holzverarbeitung aus nicht stichhaltigen Gründen abgelehnt
Lingen. – Industrieunternehmen sind gefragte Objekte. Sie helfen den Steuersäckel füllen und bilden die Basis für eine gesunde Entwicklung gemeindlichen Lebens. Industrieunternehmen sind deshalb für eine Stadt, die – zum Wohle ihrer Bürger – aufwärts strebt, ein Faktor, den man fördern und unterstützen sollte, sofern er die Hilfe staatlicher Einrichtungen benötigt.
Lingen kann für sich in Anspruch nehmen, daß seine Verwaltung über die Initiative verfügt, die alle Hebel in Bewegung setzt, um das Wirtschaftsleben voranzutreiben. Deshalb nehmen wir uns vor aller Öffentlichkeit eines Falls an, der zwar einer ganzen Reihe behördlicher Stellen bekannt ist, bislang aber nicht jene Unterstützung erfuhr, die endlich einen Erfolg verspüren läßt. Es geht um die Papier- und Holzbearbeitungsgesellschaft GmbH an der Meppener Straße, deren Fabrikationsstätte im April 1945 beim dem Einmarsch der alliierten Truppen durch Tiefflieger in Brand geschossen und bis auf die Grundmauern vernichtet wurde.
Von diesem Zeitpunkt an hat der Aufsichtsrat mit seinem Geschäftsführer in Lingen nichts unversucht gelassen, sobald als möglich das Fabrikationsprogramm mit der Herstellung von leichten Papierhülsen für die Textilindustrie wieder anlaufen zu lassen. Welche Schwierigkeiten hierbei der Gesellschaft erwachsen sind und auch heute noch den Weg zu einer Angleichung an die ehemaligen Kapazität erschweren, kann nur der ermessen, der in einer ähnlichen Situation wieder ganz von vorne anfangen mußte. In diesem Zusammenhang ist durchaus die Frage berechtigt, warum gerade diese Firma, die vor dem Kriege eine Million K9logramm Hülsen jährlich herstellte, weit über hundert Arbeiter beschäftige und zu den größten Steuerzahlern der Stadt gehörte, heute noch immer nicht recht zum Zuge kommt, obwohl der Staat bekanntlich große Mittel für die Wiederherstellung kriegsbeschädigter Betrieb zur Verfügung stellt. Diese Frage beschäftig seit Jahr und Tag auch die Papier- und Holzbearbeitungsgesellschaft sehr intensiv, weil gerade sie ja durch ihre seit 50 Jahren bewiesene Leitungsfähigkeit wohl in erste Linie ein Anrecht auf eine staatliche Kredithilfe zu haben glaubt.
Sie läßt nichts unversucht, um in den Vorteil einer solchen Hilfe zu gelangen. Um so erstaunlicher ist es, daß bei den Verhandlungen der Gesellschaft mit den zuständigen Stellen in Hannover und den anschließenden Empfehlungsverhandlungen in Bonn Argumente auftraten, die völlig unverständlich anmuten. Die Papier- und Holzbearbeitungsgesellschaft hatte Anfang 1951 um einen Kredit von 75.000 DM nachgesucht, der jedoch bei der Landesregierung in Hannover und beim Wirtschaftsministerium in Bonn auf wenig Gegenliebe stieß, da angeblich eine Produktionserweiterung des Lingener Betriebes die im Bayrischen Wald herrschende Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit noch steigern würde. Hierzu muß gesagt werden, daß im Bayrischen Wald, der als Notstandsgebiet gilt, in ziemlichem Umfange Holzartikel, wie Fleyerspulen, Aufsteckspulen usw. hergestellt werden. Sowohl die Landesregierung wie auch das Bonner Wirtschaftsministerium dürften in der Begründung ihres Ablehnungsbescheides ohne Zweifel einem Irrtum zum Opfer gefallen sein, da die Papier- und Holbearbeitungsgesellschaft in Lingen seit ihrer Gründung vor zirka 50 Jahren niemals Holzartikel der genannten Art hergestellt hat und auch nicht die Absicht hat, sie künftighin zu fabrizieren. Also erwächst den Fabrikationsstätten im Bayerischen Wald durch das Lingener Unternehmen niemals eine Konkurrenz.
Bei den in der Papier- und Holzbearbeitungsgesellschaft hergestellten Papierhülsen für die Textilindustrie, die in dem benachbarten Raum Nordhorn und im Münsterland von den Spinnereien gebraucht werden und in ihrer Art im Bayrischen Wald nicht fabriziert werden, handelt es sich um ausgesprochene Massenartikel aus Papier mit einem Stückgewicht von 0,4 bis zirka 8 Gramm. Die Preisbasis hierfür verträgt keine großen Frachtkosten, woraus klar ersichtlich ist, daß der Bayrische Wald für den nordwestdeutschen Raum nie konkurrenzfähig wäre und andererseits das Lingener Unternehmen sich niemals eine Verkaufsbasis in Süddeutschland schaffen könnte. Heute erreicht die Papier- und Holzbearbeitungsgesellschaft an der Meppener Straße in Lingen eine Jahresproduktion von zirka 200.000 Kilogramm, also nur ein Fünftel der früheren Fertigung. Dies bedeutet, daß das Unternehmen nur zu einem Bruchteil den Bedarf seiner früheren Kundschaft decken kann und diese den Restbedarf im Rheinland deckt. Die Gesellschaft leistet auf Grund des Lastenausgleichs jährlich eine Vermögensabgabe von 5.100 DM. Während nämlich die Produktionsstätten restlos vernichtet wurden, blieben die Werkswohnungen an der Meppener Straße erhalten, durch deren Vermögenswerte die Firma abgabepflichtig wurde.
Wenn man bedenkt, daß alle gesetzlichen Bestimmungen für die Gewährung des beantragten Darlehns von der Firma Papier- und Holzbearbeitungsgesellschaft erfüllt sind, daß das Emsland in seiner Struktur und mit seiner Arbeitslosenziffer als Notstandsgebiet betrachtet werden muß und durch die Schaffung von Dauerarbeitsplätzen soziale Not und Arbeitslosigkeit behoben werden kann, dann muß man die Tatsache bedauern, daß bisher eine Ankurbelung dieses Betriebes vereitelt wurde. Die Landesregierung in Hannover proklamiert laut und häufig den Gedanken der sozialen Gerechtigkeit. Im vorliegenden Fall kann man ihr nur sagen: Hic Rhodus, hic salta!“
Der Betrieb konnte in den 50er-Jahren wieder aufgebaut werden, erreichte aber nicht mehr den Umfang der Vorkriegsproduktion. Anfang der 70er-Jahre wurden die Fabrikationsräume noch erweitert und ein neues Verwaltungsgebäude erstellt. Mit der Verlagerung der Textilproduktion nach Fernost und dem Niedergang der deutschen Textilindustrie ging die Auftragslage für die Papierhülsen aus Lingen dann aber rasch zurück.
1978 stellte Papier und Holz die Produktion ein. In den leerstehenden Betriebshallen richtete der Autohändler Hans Timmer eine Autowerkstatt und ein Fahrzeuglager ein.