Lingen und Umgebung um 1800 – Teil 3

Das 19. Jahrhundert war eine Zeit des Umbruchs, in der die Grundlagen unserer heutigen Welt gelegt wurden. Industrialisierung, Mechanisierung, Demokratisierung sind nur drei Schlagwörter, deren dahinterstehende Prozesse ihren Anfang in dieser Epoche nahmen. Doch wie sah es eigentlich am Vorabend dieser wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche aus? Eine wichtige Quelle zur Beantwortung dieser Frage sind regionale Beschreibungen, die um das die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstanden. Für das damalige Gebiet Westfalens hat der Publizist Peter Florens Weddigen einige solcher „geographisch-statistischen Beschreibungen“ vorgelegt, die viel mehr Informationen enthalten als der Titel vermuten lässt.

Weddigen wurde am 18. Juni 1758 in Bielefeld als Sohn eines Leinenkaufmanns geboren. Nach dem Besuch des dortigen Gymnasiums schloss sich 1778 ein Studium der Theologie, Geschichte und Philosophie in Halle an, das mit der Promotion zum Dr. phil. Endete. Von 1778 bis 1781 war Weddigen Lehrer am Waisenhaus Halle (Westfalen) und ab 1781 Subkonrektor am Gymnasium in Bielefeld. 1793 wurde er Prediger in Bucholz (Minden) und seit 1797 stand er der Gemeinde in Kleinenbremen vor, einem Dorf bei Minden. Am 11. September 1809 beging er in Kleinenbremen Selbstmord. Seine Frau Charlotte Stohlmann unterstützte ihn bei seinen vielen, zumeist kurzlebigen Magazin- und Kalenderprojekten.

Unter seinem reichen literarischen Schaffen findet sich auch eine Beschreibung der Grafschaft Lingen, die 1806 im 5. Band des „Westphälischen historisch-geographischen Nationalkalender“ erschien. Weddinges Darstellung gibt einen tiefen Einblick in die Lebensverhältnisse im Lingener Land um 1800. Aus diesem Grund wird der Text hier in mehreren Folgen auszugsweise wiedergegeben:

Auszug aus der Beschreibung

„Die Niedergrafschaft. Dahin gehört I. Lingen

Sie ist die Hauptstadt des Landes, hat mit den öffentlichen Häusern 300 Feuerstellen, und war in vorigen Zeiten die Residenz der regierenden Grafen und Herren von Lingen. Sie liegt am östlichen Ufer der Ems, und ist nach Holländischer Art ziemlich wohl gebauet, hat einen schönen Marktplatz, der ringsum, so wie die meisten Straßen mit Linden bepflanzet ist. Auch ist sie mit einem breiten fischreichen Graben umgeben, worüber an allen drey Thoren Zugbrücken angelegt sind.

Sie war seit 1769 der Sitz der Königlichen Krieges- und Domänenkammer, deren Geschäfte, wie schon angezeigt, nunmehro per modum Commissionis [auf dem Kommissionsweg] besorgt werden.

Die Stadt hat einen Magistrat, der in Civilsachen von geringen Summen mit Jurisdiction [Rechtsprechung] versehen, sonsten aber der Regierung, und in Policeysachen von Bedeutung der Kammer unterworfen ist.

Die Zahl der Einwohner war:

Im Jahr 1740 – 1526

Im Jahr 1756 – 1572

Im Jahr 1763 – 1458

Im Jahr 1786 – 1646

Im Jahr 1793 – 1569 nämlich

Männer – 327

Frauen – 373

Söhne – 286

Töchter – 355

Knechte und Diener – 52

Mägde – 176

Summa – 1569

Unter welchen sich 31 Studiosi befanden. Im Jahr 1801 betrug die Zahl sämmtlicher Einwohner 1735. Unter diesen waren Aerzte 2, Apotheker 1, Barbier 1, Bäcker 13, Brauer 4, Brandtweinbrenner 12, Buchdrucker 1, Buchbinder 2, Buchhändler 1, Böttcher 5, Krämer 36, Drechsler 2, Drell- und Linnenweber 12, Essigbrauer 1, Fischer 2, Glaser 2, Gold- und Silberschmiede 3, Hirten 3, Gärtner 3, Handschuhmacher 4, Jäger 1, Kaufleute 10, Knopfmacher 1, Korbmacher 1, Kupferschmiede 3, Lichtzieher 3, Landmesser 1, Mahler 2, Maurer 6, Peronquenmacher [Perückenmacher] 2, Stärke- und Pudermacher 1, Sattler 1, Stuhlmacher 1, Seiler 1, Schlächter 9, Schneider 28, Schuster 12, Schlosser und Schmiede 4, Grobschmiede 2, Schenkwirthe 12, Schornsteinfeger 1, Tischler 8, Strumpfwirker 1, Tuchmacher 3, Uhrmacher 2, Wagenmacher 1, Wollenspinner 8, Zimmerleute 9, Zinngießer 1.

Die Stadt hat eine weiße Stärke- oder Amidam und Puderfabrik, die in den Jahren 1770 und 72 errichtet worden ist. Sie erhielt ein Privilegium privativum [d.h. das Recht der alleinigen Ausführung; Monopol] auf 10 Jahre und die Concession, eine Brandtweinbrennerey zum auswärtigen Debit [Export], wie auch eine Roßmühle zum Gebrauch der Fabrik anlegen zu dürfen, überdies noch die Zollfreyheit von der verfertigten Waare, und eine vierteljährige Freyheit von Paraphengeldern [Stempelgebühren; kostenpflichtiges Abstempeln behördlicher Unterlagen]. Diese Fabrik liefert jährlich für ohngefähr 10000 Reichsthaler Waaren, von welchen in den Westphälischen Provinzen für 3000 Reichsthaler, und für 7000 Reichsthjaler ins Holländische etc. ausgeführet werden.

Eine Hutmacherfabrik liefert für 500 Reichsthaler Hüte, von welchen für 300 Reichsthaler im Lande, und für 200 Reichsthaler im Münsterschen und Holländischen abgesetzt werden.

Eine Linnen und Drellfabrik [Drell = Drillich] für 1400 Reichsthaler an Werh [Werg; Fasern], davon für 800 Reichsthaler im Lingenschen debitirt, und für 600 Reichsthaler ins Münsterische und Holländische ausgeführet werden. Diese angeführten Fabriken bestehen schon seit vielen Jahren.

Lingen 1775. Stadtansicht von Norden. Emslandmuseum Lingen.

Eine Lederfabrik errichtete eine Aachner Compagnie im Jahr 1780 mit einem privilegio privato [Monopol] auf 10 Jahre, für die Grafschaften Tecklenburg und Lingen. Sie erhielt auch Zuschläge [Landzuweisungen aus den Gemeinheitsflächen] zum Holzanwachs mit folgenden Bedingungen: 1) daß niemanden eine gleiche Concession ertheilet werden kann; 2) daß die auf dem Lande wohnenden Schuster das Leder nicht selbst bereiten sollten; 3) Verbot der Ausfuhr roher Felle; 4) daß die in Tecklenburg und Lingen [an]fallenden rohen Häute vorzüglich der Fabrik verbleiben; 5) Generallizent [!] und Zollfreyheit; 6) Werbefreyheit der Gesellen. Der Werth der jährlichen Fabrikate kann auf 5000 Reichsthaler angeschlagen werden, von denen für 2000 Reichsthaler im Lande verbraucht, und für 3000 Reichsthaler auf den Messen zu Brauschweig etc. abgesetzt werden.

Die Essigbrauerey liefert für 3000 Reichsthaler. Auswärtiger Debit [Export] 2400 Reichsthaler. Die Tabaksfabrik liefert für 1500 Reichsthaler. Auswärtiger Debit 1000 Reichsthaler. Die Perlgraupenfabrik liefert für 5000 Reichsthaler. Auswärtiger Debit 4150 Reichsthaler.

Sonst war hier auch vor der Stadt eine Papiermühle, welche aber, weil sie nicht immer Wasser hatte, eingegangen ist.

Uebrigens schränkt sich die Handlung größtentheils auf den Detaillehandel [Einzelhandel] mit Ellen- [Meterware] [,] Gewürz- und Fettwaren ein.

Mit Speditirung der von und nach Holland durchgehenden Waaren geben sich einige Kaufleute ab. Landesproducte, ausser etwas Schifbauholz, werden nicht nach Holland verfahren.

Drey Kirchen sind in dieser Stadt, nämlich die Reformierte Hauptkirche, die Lutherische, und eine Katholische.

An der ersten stehen 3 Prediger, ein hochdeutschen und zwey holländische, welche wechselweise predigen. Die lutherische ist mit einem Prediger besetzt, und an der katholischen, welche die zahlreichste Gemeinde hat, sind drey Prister [!], wovon der erste Erzprister über die Grafschaft Lingen, der zweyte Kapelan und der dritte Gehülfsprister ist. In Spiritualibus [Glaubensdingen] stehen sie unter dem päbstlichen Nuntius zu Brüssel, welcher auch die Pfarren auf Vorschlag des Erzpriesters vergiebt.“

Fortsetzung folgt