Über Spökenkieker und Hellseher
Von Niklas Telger
Befasst man sich mit der nordwestdeutschen Sagenlandschaft, trifft man unweigerlich auf sie: die Spökenkieker. In der Heimatliteratur werden sie als alte Schäfer mit blauen Augen und blonden Haaren beschrieben, die einst durch die Heide streiften. Demnach besaßen sie die Gabe des „Zweiten Gesichts“, die ihnen erlaubte, kurze Blicke in die Zukunft zu erhaschen. Meist drehten sich ihre Visionen um Tod und Verderben. Sie sahen Leichenzüge, Hausbrände und weiteres Unheil. Nicht verwunderlich scheint es also, dass schon die münsterländische Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in ihrem Gedicht „Vorgeschichte (Second Sight)“ von 1842 die Propheten der Region als das „gequälte Geschlecht“ bezeichnete.
Der Begriff Spökenkieker selbst setzt sich aus den niederdeutschen Wörtern „Spôk“ (Spuk) und „Kieker“ (Seher/Gucker) zusammen. Es ist jemand gemeint, der geisterhafte Erscheinungen, also in diesem Fall Visionen der Zukunft, sieht.
Doch was steckt hinter diesem Phänomen? Die Daten, die mit dem vierten Fragebogen des „Atlas der deutschen Volkskunde“ (ADV) in den Jahren 1933/34 erhoben wurden, scheinen zumindest einen groben Trend für das Verbreitungsgebiet der Spökenkieker zu präsentieren. Die Belege dieses Wortes im Sprachwissen der befragen Personen jener Zeit häufen sich vom Sauerland bis nach Ostfriesland und nördlich von Ostwestfalen bis an die Nordseeküste. Sporadisch taucht der Ausdruck auch in Schleswig-Holstein und noch seltener entlang der Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns und der ehemaligen deutschen Gebiete in Pommern und Ostpreußen auf. Südlich des Sauerlandes wurde er in der damaligen Befragung nicht gemeldet.

Verbreitungskarte für verschiedene Seherbezeichnungen (Grober-Glück 1959: 228, Karte 1)
Andere in relevanter Häufigkeit im Nordwesten vorkommende Bezeichnungen für Personen mit dem Zweiten Gesicht sind laut der Fragebögen Schichter (bzw. Schichtseher) und Wicker. Jedoch überwiegt der Spökenkieker-Begriff bei weitem. Auch in den niederdeutschen Dialekten im Nordosten der Niederlande ist das Wort in den Schreibweisen „Spookkijker“ (Groningen; 1961) oder „Spoekenkieker“ (Drenthe; 1996) bekannt. Zumindest ist dies den dortigen Dialektwörterbüchern und populärwissenschaftlichen Texten über die örtliche Kultur zu entnehmen.
Der erste schriftlichen Beleg für den Glauben an das Zweite Gesicht im Nordwesten stammt aus dem 16. Jahrhundert. 1591 erwähnt der westfälische Theologe und Jurist Johann von Münster zu Vortlage in seinem Werk „Ein christlicher Unterricht von den Gespensten, welche bei Tag oder Nacht den Menschen erscheinen“ erstmals Berichte, die den späteren Motiven der Spökenkiekergeschichten gleichen. Es ist von vorausgesehenen Bränden und Todesfällen die Rede. Auch schreibt er, dass solche gespenstischen Erscheinungen bei den Westfalen und Niedersachsen „Spoeck“ oder „Spoeckerey“ genannt wurden. Seiner Auffassung nach waren diese jedoch nicht mit hellseherischen Begabungen, sondern durch Mahnungen Gottes zu erklären, die die Betroffenen zu einer frommen Lebensweise anhalten sollten. Eine explizite Erwähnung des Begriffs „Spökenkieker“ fehlt seinem Text jedoch.
Schon 1632 zweifelte der Lübecker Theologe Jakob Stolterfoht in seinem Werk „Schriftmäßiges Bedenken von Gesichten“ offen an dieser moralischen Deutung des Phänomens. Seiner Auffassung nach entstanden jene Erzählungen sowohl durch Fantasien und Einbildungen als auch durch pure Erfindungen. Gleichzeitig waren es gerade Theologen, die mit ihrer Kritik das Konzept des Zweiten Gesichts in ihren Schriften präsent hielten. So stützten sich auch noch später viele Spökenkiekergeschichten nicht, wie von den Autoren suggeriert, auf ‚Volkserzählungen‘, sondern auf die Texte und Predigten ihrer größten Kritiker.

Schafe in der Heide bei Wachendorf
Eine frühe niederländische Quelle mit dem Namen „Belangrijke verschijnselen van het zieleleven medegedeeld en beoordeeld“ aus dem Jahr 1836 von Philip Christiaan Molhuijsen erwähnt das Wort „spookkijker“. Glaubt man dem Autor, so hat dieser im Sommer 1819 einen Mann mit dem Zweiten Gesicht in Niebüll über seine Gabe befragt. Dieser habe erklärt, dass Leute, die nicht an solche Fähigkeiten glaubten, ihn als Lügner oder spookkijker abwerteten.
Die älteste auffindbare deutsche Begriffserwähnung des Spökenkiekers stammt von Wilhelm Meinhold. Dieser publizierte 1850 in der Zeitschrift „Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland“ seinen Artikel „Ueber die prophetische Gesichte, und insonderheit die von Spielbahn, Jasper u. als nothwendige Ergänzung des von mir in meiner Ausgabe der Lehnin’schen Weissagung über den Unterschied zwischen Prophetie und Divination Gesagten“. In diesem machte er in einer Fußnote eine abfällige Bemerkung über den schwedischen Mystiker Emanuel Swedenborg, den er als „perpetuelle(n) Speukenkieker“ bezeichnete.
In beiden Quellen scheint das Wort negativ behaftet zu sein. Dies zeigt, dass ein möglicher Bedeutungswandel von einem Menschen mit hellseherischen Fähigkeiten hin zu einem Scharlatan nicht nach dem frühen bis mittleren 19. Jahrhundert stattgefunden haben kann. Möglicherweise entspringt dieser Wandel dem Kontext der Aufklärung des vorausgegangenen Jahrhunderts.
Ab Anfang des 20. Jahrhunderts erfuhr der Spökenkiekerbegriff eine weitere Umdeutung, die besonders durch den Historiker Friedrich Zurbonsen und sein 1907 erschienenes Buch „Das Zweite Gesicht“ vorangetrieben wurde. In diesem stellte er den mythischen Spökenkieker einer idealisierten Vergangenheit der urbanen und technisierten Moderne gegenüber. Hierbei griff Zurbonsen auf das idealtypische Bild des Spökenkiekers zurück, nach dem dieser bereits seit mindestens der Mitte des 19. Jahrhunderts als Schäfer dargestellt wurde. Diese Beschreibung taucht in Verbindung mit der expliziten Nennung des Spökenkiekerbegriffs bereits 1858 im Text „Eine Westphälische (sic!) Bauernhochzeit“ von Judocus Donatus Herbertus Temme auf.
Nach Zurbonsen sollte der Spökenkieker besonders in Westfalen vorkommen und eine direkte Verbindung zwischen diesem und der westfälischen Landschaft wurde suggeriert. Er schreibt: „(…) nur wo die Scholle noch den Geist der Vorzeit atmet, weit hinten in den waldgrünen Bergen des Sauerlandes, im Heidewinkel des Münsterlandes, in der weltfernen Dorf- und Bauernhütte: da geht der eigentliche ‚Spökenkieker‘ heute noch um wie in der Väter Tagen“ (Zurbonsen 1907: 36). Zwar erwähnt er sporadisch auch die Existenz der Spökenkieker in Niedersachsen, fokussiert sich in seinem Werk jedoch auf das Sauer- und Münsterland. Bereits der Soester Heimatforscher Ludwig Friedrich von Schmitz stilisierte Sehergeschichten als charakteristisches Merkmal Westfalens, selbst wenn er nicht direkt den Begriff des Spökenkiekers erwähnte. Auch weitere Historiker und Heimatkundler des 20. Jahrhunderts wie Hermann Rothert folgten Zurbonsens Ansichten. Diese Identifikation Westfalens mündete 1962 in der Aufstellung mehrerer Denkmäler in der Region.

Spökenkiekerholzschnitt von Heinrich Everz (1926)
Doch auch das Emsland war gegen diese völkische Einverleibung der Sehermythologie nicht immun. So schrieb der Lünner Volkskundler Karl Schmeing 1937, dass diese Gabe meist nur im niederdeutschen Raum vorkommen würde und eine Eigenart der „Völker nordischen Blutes“ sei (Schmeing 1937: 117).
Trotz seines Auflebens in der Volkstumsideologie des 20. Jahrhunderts lebt der Spökenkiekerbegriff als regionales Symbol fort. Nicht nur seine Denkmäler in Westfalen zeugen davon. So nannten die Autoren Michael Kuper und Thomas Brinker ihre Sammlungen von typisch emsländischen Sagen „Spökenkiekers“. Auch eine emsländische Fahrradroute ist nach ihm benannt. Egal ob nun als Bezeichnung für einen Hellseher, als Abwertung für einen (Lügen-)Geschichtenerzähler oder als Zeichen regionaler Einzigartigkeit: der Spökenkieker lebt weiter.
Literaturverzeichnis:
Denkler, Markus (2013): Das ‚Zweite Gesicht‘ in Westfalen. Wortgeografie und Lexikologie. In: Carstensen, Jan/ Gefion Apel (Hg.): „Verflixt!“ – Geister, Hexen und Dämonen. Münster, New York, München, Berlin: Schriften des LWL-Freilichtmuseums Detmold 35, S. 45-48.
Grober-Glück, Gerda (1959): Zur Verbreitung und Deutung des Zweiten Gesichts. Nach den Sammlungen des Atlas der deutschen Volkskunde. Zeitschrift für Volkskunde 55, S. 227-258.
Foerste, Lotte (1987): Westfälische Mundartliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Münster: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung.
Strotdrees, Gisbert (2013): Das ‚Zweite Gesicht‘ in Westfalen. Geschichte, Erzählkultur, Erinnerungsort. In: Carstensen, Jan/ Gefion Apel (Hg.): „Verflixt!“ – Geister, Hexen und Dämonen. Münster, New York, München, Berlin: Schriften des LWL-Freilichtmuseums Detmold 35, S. 33-44.
Strotdrees, Gisbert (2017): Das zweite Gesicht. In: Krull, Lena (Hg.): Westfälische Erinnerungsorte. Beiträge zum kollektiven Gedächtnis einer Region (Forschungen zur Regionalgeschichte 80). Paderborn: Brill/Schönigh, S. 523–536.
Quellen:
Brinker, Thomas; Kuper, Michael (1998): Spökenkiekers. Unheimliche Geschichten aus dem Emsland. Lingen: Thomas Brinker Verlag.
Emsland: Spökenkieker. Von der Stadt bis an den Strand (https://www.emsland-routenplaner.de/emsland/details.php?id=282463, Zugriff: 29.04.2025)
von Droste-Hülshoff, Annette (1842): Bilder aus Westfalen. Westfälische Schilderungen aus einer westfälischen Feder. Meersburg: [??? Levin Schücking ???]
Jostes, Franz (1964): Westfälisches Trachtenbuch. Volksleben und Volkskultur in Westfalen. (2. Auflage Bearbeitet und erweitert von Martha Bringmeier). Münster: Hermann Heckmann Verlag (1. Aufl. Münster 1904).
Kocks, Geert Hendrik (1996): Woordenboek van de Drentse Dialecten. Assen: Koniklijke van Gorcum.
Meinhold, Wilhelm (1850): Ueber die prophetische Gesichte, und insonderheit die von Spielbahn, Jasper u. als nothwendige Ergänzung des von mir in meiner Ausgabe der Lehnin’schen Weissagung über den Unterschied zwischen Prophetie und Divination Gesagten. Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland. Zweiter Band, S. 282-297.
Molhuijsen, Philipp Christiaan (1836): Belangrijke verschijnselen van het zieleleven medegedeeld en beoordeeld. Deventer: J. de Lange.
Schmeing, Karl (1937): Das „Zweite Gesicht“ in Niederdeutschland. Wesen und Wahrheitsgestalt. Leipzig: J. A. Barth.
Temme, Judocus Donatus Hubertus (1858): Eine Westphälische Bauernhochzeit. Westermann’s Illustrierte Deutsche Monatshefte 21, S. 227-250.
ter Laan, Kornelis (1961): Groninger volksleven. Beschrijvende folklore. Groningen: P. Noordhoff.
von Münster, Johann (1591): Ein christlicher Unterricht von den Gespensten, welche bei Tag oder Nacht den Menschen erscheinen – zu Ehren und freundlichem Gefallen etlichen vornehmen und gottfürchtigen Leuten aufs Papier gebracht durch Johann von Münster zu Vortlage. Bremen: Bernhard Peterß.
Zurbonsen, Friedrich (1907): Das zweite Gesicht (Die „Vorgeschichten“) nach Wirklichkeit und Wesen. Köln: J. P. Bachem.