Eine Familie flüchtet aus der Lingener Innenstadt

Fritz Linnemann erlebt als Siebenjähriger das Kriegsende

Bei der Rückkehr vom Hof Diekamp in Altenlingen sieht die Familie Linnemann die schweren Zerstörungen in der Innenstadt und den ausgebrannten Baublock zwischen Marktplatz und Burgstraße

Als Siebenjähriger erlebte der spätere Fahrrad- und Nähmaschinenmechaniker Fritz Linnemann (1938-2018) das Kriegsende in Lingen. Seine Familie wohnte in der Kivelingstraße in der Innenstadt. In der Nachbarschaft wohnte auch die Familie seines Onkels, der eine Autowerkstatt betrieb. Die Familie Linnemann flüchtete vor den Kampfhandlungen zum Bauern Diekamp in Altenlingen. Geschrieben hat Fritz Linnemann den Bericht 1952 für eine Schülerarbeit der Paul-Gerhard-Schule (ev. Volksschule) mit dem Titel „Aus der Geschichte Lingens“. Der Titel „Vor 7 Jahren“ ist angelehnt an eine gleichnamige Serie von Zeitungsartikeln mit Erinnerungen an das Kriegsende in Lingen, die im Frühjahr 1952 im Lingener Volksboten erschienen.

Das Haus und Geschäft der Familie Linnemann in der Kivelingstraße
Vor 7 Jahren… [1945]

Lingen, den 16.8.1952

Vor Sieben Jahren.
 
Die letzten Tage des Krieges.
Immer noch tobte der Krieg im Lande. Die deut-
schen Fronten brachen mehr und mehr zusammen.
Wir aber lebten in Angst vor den Bombern.
Ich war noch keine 7 Jahre. Vom ersten Schuljahr
habe ich nicht viel gehabt.
Gerade hatten wir Rechnen bei Herrn Lehrer
Prellwitz. Auf einmal ging die Sirene. „Packt eure
Sachen!“ sagte der Lehrer. „Die Kinder, die einen weiten
Weg haben, gehen hier in den Keller“. Ich rannte so
schnell wie möglich nach Hause. Mutter sagte: „Geh
schon in den Keller, wir kommen gleich nach.“ Jetzt
saß ich im Keller und hörte, wie die Bomber über
uns wegflogen. Ab und zu warfen sie Bomben ab.
Aber sie fielen außerhalb von Lingen.
Eines Tages, als wir nicht zur Schule brauchten,
spielten wir auf der Straße mit dem Ball. Da rief
meine Mutter mich und sagte: „Hole schnell die Räder
heraus, wir müssen in den Wald, über Lingen
kommt ein Angriff“.
Ohne mich lange zu besinnen, brachte ich die
Räder auf die Straße. Meine Mutter nahm noch die
wichtigsten Sachen mit. Das Haus wurde abge-
schlossen, und wir fuhren zum Springup. Er liegt in
der Nähe des neuen Friedhofs. Hier hatten wir uns schon
eine Stelle zurecht gemacht, wo wir uns bei größeren An-
griffen aufhielten. Jetzt warteten wir ab, was kom-
men würde. Die Bomben prasselten auf Lingen her-
nieder. Das Bombergeschwader näherte sich uns. Wir
legten uns an den Erdboden. Endlos erschien
uns die Zahl der Flugzeuge. Auch die Zeit kam uns
wie eine Ewigkeit vor. Aber es waren nur einige
Minuten gewesen, bis die Flugzeuge vorüber waren.
Als wir nach Lingen zurückkamen, stellten wir
zu unserer größten Freude fest, daß die Bomben
nicht viel Schaden angerichtet hatten. Unser Haus
war vollständig verschont geblieben.
Die Familie Linnemann flüchtet aus der Innenstadt und findet Aufnahme beim Bauern Diekamp in Altenlingen
 Die Räumung Lingens

Es war am Ende des Monats April. Ich lag
im Bette und träumte vom vergangenen Tage. Durch
den Klang der Sirenen wurde ich geweckt. Meine
Mutter kam eilig die Treppe hinaus und holte
mich aus dem Bett. Ich fragte: Mutti, was ist denn
los?“ Sie entgegnete: „Wir müssen die Stadt räumen,
die Engländer kommen.“ Meine Mutter ging wieder
in den Keller und versteckte dort alle wichtigen
Sachen. Ich kramte meine Wintersachen hervor
und zog mich mollig an. Als ich nach unten
kam, sagte meine Mutti: „Fritz, hole schnell den
Handwagen aus der Waschküche!“ Eiligst holte ich
den Wagen. Jetzt wurden Eßgeschirr und alles, was
wir eben noch mitkriegen konnten, in den Wagen
gepackt.
Um 4 Uhr morgens verließen wir unser
Elternhaus. Im Ganzen waren wir 10 Personen:
Meine 3 Tanten, mein Vetter, meine 5 Kusinen und
ich.
Ulla und ich mußten noch einmal zurück-
laufen und eine Taschenlampe holen, denn es war
noch zu finster. Endlich waren wir wieder bei unserer
kleinen Gruppe. Wir zitterten vor Angst, denn wir
waren noch klein und glaubten an Geister. Die
Bäume kamen uns nämlich so gespenstisch vor.
„Laßt uns jetzt schnell weitergehen, sonst
kriegen wir keinen Platz mehr bei Bauer Die-
kamp!“ Wir befanden uns erst am Ende der
Waldstraße. Nun begann schon der Wald. Der
Weg wurde immer holpriger. Manchmal mußten
wir den Wagen auch über umgefallenen Bäume heben.
An einem alten Baum stieß meine Tante sich so
sehr, daß sie einen Verband um die Hand bekam
und uns nicht mehr helfen konnte.

So gelangten wir denn erst um 7 Uhr beim
Bauer Diekamp an. Dieser empfing uns freundlich
und sagte: „Für euch habe ich noch wohl Platz“. Als
wir unseren Handwagen in die Diele gestellt hatten,
gingen wir in das uns angewiesene Zimmer. Hier
ruhten wir uns aus. Um 8 Uhr kam meine Mutter
mit dem Fahrrade nach. Sie hatte noch allerhand Sachen
mitgebracht. Wir Kinder besahen uns das Vieh.
Der Vormittag war vergangen. Zum Mittagessen gab
es eine Milchsuppe. Damit war vorläufig der Hunger
gestillt. Nachher halfen wir Herrn Diekamp mit,
Schlafstätten zu errichten. Dicht beim Hause
war eine Scheune. Hier wurden mehrere Pferde-
wagen voll Heu hineingefahren. Es wurde gleich-
mäßig verteilt und etwa 3 m hoch über den
Boden gelegt. Auf einmal wurden wir durch ein
Surren gestört. Als wir hinausliefen, sahen wir
wie mein Opa und mein Onkel mit dem Auto
kamen. Als sie gegessen hatten, fingen sie an
zu erzählen: „Gegen 11 Uhr kam ein deutscher
Offizier mit mehreren Wagen auf den Werkstatt-
hof. Sie haben, ohne zu fragen, die Tankstelle
aufgebrochen und das ganze Benzin heraus
gepumpt. Das Reservebenzin haben wir
schnell in Kanister gefüllt und mitgebracht.
Dann verschlossen wir alles und sind
euch nachgekommen.“
Jetzt gingen wir wieder zu Herrn
Diekamp zurück und halfen ihm. Bald waren
wir dann auch fertig. Wir besahen uns den
ganzen Bauernhof. Nun konnten wir uns nicht
verirren.
Bei der Familie des Bauern Diekamp in Altenlingen wurden Linnemann freundliche empfangen
 Mittlerweile war es Abend geworden, und es
fing an zu dämmern. Nachdem wir unser
Abendbrot verzehrt hatten, machten wir alles
fertig für die erste Nacht. Als es endlich ganz
dunkel geworden war, nahmen wir unsere
Decken und gingen in unser Strohlager. Es sah
hier aus wie in einem Massenquartier.
Es muß wohl mitten in der Nacht ge-
wesen sein, als ich erwachte. Ich hatte einen
schrecklichen Traum gehabt. Jetzt saß ich da,
ringsum war tiefe Stille. Nur in der Ferne hörte
ich das unaufhörliche Donnern der Kanonen.
Etwas ängstlich war mir in diesem Moment
doch gewesen. Schließlich weckte ich meine Kusine.
Sie sagte mir, als sie sich auch alles angehört
hatte: „Fritz, ich habe etwas Angst! Du auch?“
Ich bejahte. Ich fragte sie, ob wir nicht einfach
zu unserer Mutti ins Zimmer laufen wollten.
Wir nahmen jeder unsere zwei Decken unter
den Arm, faßten uns an und wollten zur
Tür gehen. Da stieß ich mit dem Fuß an den
Arm meines Opas. Dieser wurde wach. Als wir
ihm alles erzählt hatten, brachte er uns ins
Zimmer. Hier machten wir uns alles zurecht
und schliefen bis zum anderen Morgen durch.
An diesem Tag ist nicht Bemerkenswertes
mehr passiert. Am Abend durften wir wieder
im Zimmer meiner Mutter schlafen.
Am anderen Morgen schon ganz früh
waren Ulla und ich wieder auf den Beinen.
Wir faßten uns an die Hand und wollten
einen Morgenspaziergang machen. Als wir ge-
rade um die Ecke bogen, sahen wir dort hinten
einen Wagen ankommen. Wir liefen schnell
zurück und sagten es Herrn Diekamp. Wir gingen
mit ihm auf den Hof. Da fuhr gerade der Wagen
vor. Vier deutsche Soldaten sprangen heraus.
Sie begrüßten uns und fragten, ob wir hier
nicht Benzin und einen Reifen hätten. Herr
Diekamp sagte zu unserem Opa, was sie
wollten. Dieser ging mit den Soldaten und
sagte zu ihnen: „Was ihr gebraucht, könnt ihr
mitnehmen. Die Engländer holen es uns nach-
her ja doch weg.“ Ein Soldat füllte jetzt Benzin
auf seinen Wagen. Die anderen waren dabei
beschäftigt, einen Reifen anzumontieren. Als
der Wagen wieder in Ordnung war, bedankten
sie sich bei meinem Opa und fuhren so
schnell wie möglich den Landweg entlang.
Nach dem Mittagessen bekamen wir
noch einmal einen Besuch von zwei deutschen
Soldaten. Sie baten uns um etwas Zeug, welches
sie auch bekamen.
Nach drei Tagen bekamen wir die Nach-
richt, daß wir wieder nach Hause gehen
konnten. Am 4. Tage, als wir uns von Herrn
Diekamp verabschiedet hatten und ihm etwas
Geld gegeben hatten, verließen wir den Bauern-
hof.
Bei der Rückkehr in die inzwischen von den Engländern besetzte Innenstadt sehen Linnemann die schweren Schäden und den ausgebrannten Baublock zwischen Marktplatz und Burgstraße
 Unterwegs trafen wir noch einige Eng-
länder. Sie begrüßten uns freundlichst und
gingen weiter. Wir mußten uns tüchtig an-
strengen, denn unser Wagen versackte in
den Spuren der Panzer. Viele Häuser waren
niedergebrannt. Auf dem Marktplatz stand
sonst ein Häuserblock mit Geschäftshäusern.
Diese waren alle ausgebrannt.
Endlich kamen wir in unsere Wohnung.
 
Wie sah es im Hause aus?
In der Schaufensterscheibe war ein großes
Loch. Den größten Teil der Fahrräder und
Ersatzteile hatte man gestohlen. Auf unserm
Flur lag nur etwas Staub. Auch in der
Küche war nicht viel umgeräumt. In der
Stube befanden sich Schreibtisch und
Schränke in großer Unordnung. Fernglas
und Fotoapparat, die wir im Schreibtisch
versteckt hatten, waren spurlos verschwunden.
Auch meinen Tornister fand ich nicht
mehr. Der Radioapparat und unsere Schreibma-
schine waren ebenfalls gestohlen worden. Als wir
nach oben kamen, sahen wir zwei alte Stiefel
in der Ecke stehen. Auf der Dachkammer
waren Eier auf die Erde und an die Wände
geworfen worden.
Ich eilte jetzt in mein Zimmer, um
festzustellen, wie es hier aussah. Als ich die
Tür aufmachte, lag vor mir ein Haufen
Schutt. Ich guckte nach oben. In der Decke
bemerkte ich ein Loch. Es mußte wohl
von einer Granate herrühren. Alle Scheiben
waren zertrümmert. Auch meine Spielkiste
mit den Spielsachen fand ich nicht mehr.
In dem Schlafzimmer meiner Mutter sah es
genau so aus. Auch hier war eine Granate
durch die Decke gegangen. Als ich auf den
Boden stieg, konnte ich in den freien Him-
mel gucken. Die Dachpfannen mußten wohl
vom Beschuß entzweigegangen sein.
Jetzt eilte ich wieder nach unten.
Meine Tante hatte schon ein Feuer gemacht
und fing an, das Essen zu kochen. Inzwischen
räumten wir alles auf. Bis zum Mittagessen
hatten wir erst zwei Zimmer wieder instand
gesetzt.
Gegen Abend hatten wir glücklich
alles wieder in Ordnung gebracht. Nun aber
war die Frage: „Wo sollen wir mit 13 Personen
schlafen?“ Schließlich räumten wir die Stube
wieder aus und trugen hier Matratzen hinein.
Zum Glück konnten wir gerade 13 Stück auf-
treiben. So verbrachten wir die erste Nacht
auf dem Fußboden.
Mit einem Flugblatt verkündete die Militärregierung eine allgemeine Ausgangssperre
 Am nächsten Tag bekamen wir die
Nachricht, daß niemand auf die Straßen gehen
dürfte. Na ja, da war nun eben nichts zu
machen. Wir verbrachten die 3 Tage, an denen
wir nicht auf die Straße gehen durften, auf dem
Hof. Am 4. Tage erhielten wir
die Nachricht, daß wir Dachpfannen bekommen
könnten. Mit allen Kräften ging es ans Werk.
Wir hatten auch gerade das Dach fertig, da gab
es Regen.
Nach dieser Arbeit zogen auch unsere
Verwandten wieder in ihre Wohnung.
Die englischen Besatzungstruppen aber
blieben noch einige Jahre im Lande.
Diese Erlebnisse werde ich nie vergessen.
Das Geschäftshaus der Familie Linnemann (Mitte, mit Schaufenster) in der Kivelingstraße beim Hochwasser 1946