20. Dezember 2020
Am 6. April 2020 berichtete dieses Blog über die Erlebnisse er Lingenerin Käthe Niehüser, verheiratete Contzen, beim Kriegsende in Lingen. Sie hatte 1943 den Soldaten
Josef Contzen (1915-2011) geheiratet, der aus Krankheitsgründen zunächst vom Fronteinsatz freigestellt war. Im Herbst 1944 wurde Contzen jedoch zu einer speziellen Krankeneinheit an die Ostfront abkommandiert. Anfang Dezember 1944 war er noch einmal zu einem kurzen Heimaturlaub nach Lingen und wurde am 18. Dezember mit seiner Einheit in Richtung Osten in Marsch gesetzt.
Am 8. Februar 1945 geriet Josef Contzen nach dem Weichselübergang in Kulm in russische Kriegsgefangenschaft. Nach ein paar Monaten im Lager Thorn kam er im Sommer 1945 in das Lager Graudenz und dann mit einem Transportzug nach Petrosawodsk in Russland, etwa 400 Kilometer nordöstlich von St. Petersbuch, in ein Waldlager. Dort wählte man ihn aus für ein Arbeitslager auf der Elch-Insel im Onegasee in Karelien im Norden von Russland. Contzen musste fast ein Jahr unter einfachsten Bedingungen in einem Kalkwerk arbeiten. Dort erlebte er auch das Weihnachtsfest 1945. Im Herbst 1946 kam er in eine Ziegelei in Salomini bei Petrosawodsk, wo er etwa ein Jahr lang schwerste Arbeiten verrichten musste.
Am 3. Januar 1947, etwa zwei Jahre nach seiner Gefangennahme, erhielt Contzen die erste Nachricht aus der Heimat und erfuhrt darin, dass seine Frau im Sommer 1945 eine Tochter zu Welt gebracht hatte. Wegen einer schweren Erkrankung kam er im Herbst 1947 in ein Kriegsgefangenenlazarett und als sich sein Zustand nicht besserte in ein Hospital. Zu Weihnachten 1947 wurde er aufgrund der Krankheit in die Heimat entlassen.
Seine Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft hielt Josef Contzen in einem umfangreichen Tagebuch fest, in das er auch Skizzen, Kriegsgefangenenpost und Fotos früherer Kameraden einklebte.
Am schlimmsten während der Zeit auf der Elchinsel war der Hunger. Über die Weihnachtszeit 1945 schreibt Contzen:
„Nikolai, unser russische Bäckerei-Chef und Verpflegungsmensch, sorgte leidlich für unser leibliches Wohl. Zwei von unseren Leuten, Karl Nickel und Willi Balker, die als Bäcker abgestellt waren, konnten nicht viel daran verbessern. Das Brot war anfänglich naß und schwer. 200 Gramm-Portionen für nicht oder wenig arbeitende Kameraden reichten neben der dünnen Suppe, die es mittags gab, nicht aus. 300 Gramm Portionen gab es für Kameraden, die ihre Arbeitsnormen von 100 % weit überschritten.
Auf der Insel stellten wir die ersten Waagen her, um die Brotzuteilungen gerecht verteilen zu können. Steine waren unsere Gewichte.
Die beiden Bäcker aus unseren Reihen brachten doch schon mal fertig, uns etwas mehr Brot zukommen zu lassen.
Unsere Zuckerzuteilung von 20 Gramm pro Person wurde mit dem Löffel abgemessen. Ein Eßlöffel gestrichen voll war immer richtig.
Es gab auch mal eine kleine Steinsalzzuteilung. Dieses mußte und wurde am leichtesten mit einer Flasche fein gemahlen.
Wie gut schmeckte eine fein geschnittene Scheibe Brot mit etwas Salz bestreut. Es war schon eine Delikatesse eine mit Zucker bestreute Schnitte zu verzehren.
Es kam sehr darauf an, den „Brotvorrat“ auf den ganzen Tag zu verteilen. Viele brachten dazu nicht die Kraft auf. Auch konnte es sein, daß ein Stückchen Brot aus dem Versteck verschwunden war.
Die Russen selbst hatten es schwer zu leben und waren froh, von unserem Brot noch etwas mitzubekommen. Wir hatten einen lieben alten Meister mit langem Bart, der Deutschland vom früheren Kriege her kannte. Er schrieb uns gerne mehr Prozente, wenn er auch zwei, drei kleine Portionen Brot mitbekam. Das ließ sich auch machen, wenn er kranke Leute, die nicht zur Arbeit brauchten, mit aufführte.
Die Küche wurde von Willi Remmlinger geführt. Oft hatte er nur wenig Produkte zur Verfügung. Es gab fast immer eine dünne Fisch-, Mehl- oder Graupensuppe. Dazu auch schon mal eine kleine Kelle Kascha (Hirse). Büchsenfleisch hatten die Russen noch vom Amerikaner. Um das der Küche zugeteilte Fleisch gerecht zu verteilen, erhielten alle ein Stück von 20 Gramm auf die Hand.
Manchmal wurde von unseren Leuten in der Küche eingebrochen, um Konserven oder Sonstiges zu klauen. Der Küchenchef, der auf Grund dieser Vorfälle nachts in der Küche wachte, hatte den Hungrigen bald erwischt. Es war N.N. aus Bielefeld. Aber was sollte es, er wollte ja nur seinen Hunger stillen, auch wenn es auf Kosten aller Gefangenen ging.
Wie gut es war, daß man ab und zu vom Küchenchef ein paar rohe Kartoffeln ergattern konnte, die in Scheiben geschnitten auf der Herdplatte ohne Fett gebraten wurde und vorzüglich schmeckten.
Vom 1. bis 11. Oktober 1945 hatten wir auf der Insel Hungertage durchzustehen. Unser guter Fahrer Nikolai war nach Petrosowodsk gefahren, um neue Verpflegung heranzuschaffen. Er hatte es aber nicht berechnet, genügend Vorrat für eine eventuelle längere Abwesenheit herauszurücken. So wurden dann in der erwähnten Zeit von 100 Gramm Graupen am Tage 3 Suppen gekocht. Stückchen vom Dosenfleisch mussten in der Suppe mit der Lupe gesucht werden. Das Brot wurde auf 300 Gramm am Tage gekürzt. Wenn ich mich recht entsinne, waren wir ein paar Tage sogar ohne Brot.
Die Backart des Brotes war noch nicht besser geworden, nasses, schweres Brot. 200 oder 300 Gramm-Stücke waren nur kleine Portionen.
Diese Zeit war für viele die schwerste. Wenn auch während dieser Zeit auf der Baustelle nicht so viel gearbeitet wurde, so waren die Tage mit so einer Verpflegung für jeden eine Qual. Hunger tut weh.
Eines Tages war keine Verpflegung mehr da. Ein Schiffskahn mit Verpflegung an Bord konnte uns nicht erreichen, weil der Onegasee zugefroren war. Man befürchtete, daß mehr Leute erkrankten. Das Unglaubliche geschah. Man wollte uns nicht verhungern lassen! Ein Flugzeug brachte uns neue Verpflegung. Ein Feuer auf dem Eis markierte den Landeplatz.
Nicht selten gab es immer die gleiche Suppe. Fischsuppen schmeckten uns recht gut. Die dicken, weichgekochten Knochen der großen Fische mundeten besonders und sättigten mehr, wenn man davon in der Suppe etwas vorfand. Aber auch dünne Suppen schmeckten uns, weil wir immer Hunger und Appetit hatten. Um dünne Suppen etwas sämiger zu machen, bestand nun die Möglichkeit, Brennnesseln oder Schafgarbe zu pflücken, zu zerhacken und der heißen Suppe beizugeben. Es schmeckte allen und sorgte obendrein für fehlende Vitamine.
Auf der Insel zog ein hungriger Gaul unsere Loren aus dem Steinbruch zum Kalkofen oder zur Verladerampe. Nach einiger Zeit, es war im Winter, war das Pferd mit Räude befallen und ging ein. Im Wald wurde es unter einer dicken Schneedecke verscharrt. – Es dauerte nicht lange, da wurde gekocht und gebrodelt, sogar in der der Nacht. Einige Kameraden hatten den Kadaver des Pferdes aus dem Schnee hervorgeholt und Fleischportionen entnommen. So war es nicht verwunderlich, daß ein oder zwei Todesfälle, wahrscheinlich infolge Fleischvergiftung, zu beklagen waren, bevor der geschlachtete Gaul entdeckt wurde.“
An die Hungerjahre von Josef Contzen in russischer Kriegsgefangenschaft erinnert sein Essgeschirr, dass ihn während der ganzen Zeit in Russland begleitet hat. Nach seiner Heimkehr hat er die wichtigsten Stationen seiner Kriegsgefangenschaft in das Geschirr eingraviert. Ein eindrucksvolles Erinnerungsstück an schwere Zeiten.