Vor 75 Jahren beherrschte der Mangel den Alltag
Im Herbst 1946 wurden von der britischen Militärregierung die frühere preußische Provinz Hannover, das Land Oldenburg sowie die Länder Braunschweig und Schaumburg-Lippe zum Land Niedersachsen zusammengeschlossen. Auch das Emsland wurde Teil
dieses neuen Bundeslandes. Mit einer neuen Serie blickt das Emslandmuseum in jedem Monat 2021 zurück auf das Jahr 1946 und besonders auf die damaligen Verhältnisse in Lingen und dem Emsland.
Im Januar 1945 ist es kalt in Lingen, denn schon der erste Nachkriegswinter ist ungewöhnlich hart und Brennstoffe sind knapp. Doch die Kälte ist nicht die einzige Sorge bei den Einheimischen und den vielen Flüchtlingen, die von ihrer Heimat ins Ostdeutschland abgeschnitten sind. Es mangelte an allem, besonders aber an Lebensmitteln. Wer sich nicht zusätzlich aus der eigenen Landwirtschaft oder dem Garten versorgen konnte, musste mit den kargen Rationen der Lebensmittelkarten auskommen, die kaum zum Überleben reichten. Oder die Sache selber in die Hand nehmen und sich auf dem Schwarzmarkt und im Tauschhandel zusätzliche Nahrungsmittel organisieren. Das war natürlich illegal, aber dafür war bei den sogenannten „Kompensationsgeschäften“ zu überhöhten Preisen fast alles irgendwie zu bekommen.
Es mehrten sich aber auch Berichte über Einbrüche in Vorratskeller und Warenlager, Feld- und Gartendiebstähle. Die „Nordwest-Nachrichten“, eine Zeitung der Britischen Militärbehörde, berichtete in ihrer ersten Ausgabe 1946 am 4. Januar von dunklen Geschäften in der Grafschaft Bentheim, wo sich Schieber aus dem Ruhrgebiet mit schwarz geschlachtetem Fleisch eindeckten. Sie hatten mit Stahlwaren auf dem Schwarzmarkt Zucker und Mehl organisiert. Dieses tauschten sie bei den Bauern gegen Schweine-, Kälber- und Hammelfleisch. Sogar ein ganzer Schinken verließ die Grafschaft in Richtung Ruhrgebiet. Doch die Sache flog auf und die Haupttäter wurden zu Zuchthaus und 5000 Reichsmark Geldstrafe verurteilt. Ausdrücklich wird berichtet, dass dieses Urteil abschreckende Wirkung entfalten sollte, was angesichts des Hungers wohl illusorisch war. Hunderte ähnliche Verfahren waren in der Provinz Hannover anhängig.
Die Polizei konzentrierte sich auf die Bahnhöfe, denn privater Autoverkehr war stark eingeschränkt und irgendwie musste die heiße Ware ja transportiert werden. Der Bahnhof Lingen spielte dabei eine wichtige Rolle. Im Januar 1946 stockte die Militärregierung die Polizeitruppe in Lingen deutlich auf. Hilfspolizisten, die sich auch ohne polizeiliche Ausbildung in der Praxis bewährt hatten und keine Nazis waren, wurden in den regulären Polizeidienst übernommen.
Das erhaltene Verhaftungsbuch berichtet von typischen Delikten der Nachkriegszeit: Diebstähle und Raubüberfälle auf Bauernhöfe, Schiebung mit Zigaretten und Schokolade aus Beständen der Besatzungstruppen, Holzhehlerei und Viehdiebstahl. Ein Problem war auch die Prostitution zur Beschaffung von Lebensmitteln, Zigaretten und Alkohol, wodurch sich Geschlechtskrankheiten verbreiteten, auch unter den englischen und polnischen Soldaten. Kriminalitätsschwerpunkte waren die Kneipen und das Bahnhofsumfeld sowie die Kasernen, die damals als Massenunterkunft für Ausländer dienten, darunter viele befreite Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Nach Ende des Krieges hielten sie sich nicht an die Vorschriften ihrer früheren Peiniger und manchmal nahmen sie auch Rache für jahreslanges Unrecht und Entbehrungen.
Von der Polizei belangt wurden vor allem Deutsche, die sich zum Zweck des Schwarzhandels, zur Beschaffung von alliiertem Militärmaterial und Versorgungsgütern auf den Weg nach Lingen und speziell in die Kaserne gemacht hatten. Dem Vernehmen nach kamen sie hauptsächlich von auswärts. Für ausländische Straftäter unter den Kasernenbewohnern war allein die Britische Militärpolizei zuständig.
Die meisten Einheimischen und die meisten Kasernenbewohner verhielten sich damals rechtschaffen, was gelegentliches organisieren und tauschen natürlich nicht ausschloss. So meldeten die Kleinanzeigen im Januar 1946 z.B.: „Flüchtlingsfrau sucht Deckbett oder Unterbett zu kaufen oder gegen Herrentaschenuhr zu tauschen“, „Junges Schaf gegen ca. 150-Pfd.-Schwein zu tauschen“, „Biete gut erhaltenes Damenfahrrad mit Beleuchtung, suche Radioapparat (außer Volksempfänger)“, „Biete Kokos-Wohnzimmerteppich, suche gut erhaltenen Küchenherd“.
Auch erste Anzeichen einer Normalisierung waren im Januar 1946 erkennbar. Am 2. Januar tagte zum ersten Mal wieder der Lingener Stadtrat, den die Nazis 1933 „gleichgeschaltet“ hatten. Die von der Militärregierung ernannten neuen Ratsmitglieder wurden von Bürgermeister Clemens Brackmann per Handschlag zu treuer Amtsführung verpflichtet, Wilhelm Vollmer und Heinrich Driemann zu Beigeordneten gewählt und Ausschüsse gebildet. Entsprechen der neun Kommunalordnung nach britischem Vorbild wählte der Rat am 5. Februar 1946 Alfons Mainka zum Stadtdirektor. Die Lingener nahmen ihr Schicksal ganz allmählich wieder selber in die Hand.