Das Eisenbahn-Ausbesserungswerk Lingen

Einst größter Industriebetrieb im Emsland

Blick in die Lokreparaturhalle, 1897

1856 nahm die „Königlich Hannoversche Eisenbahn“ den Betrieb auf der neu eröffneten Bahnstrecke Hannover-Rheine-Emden auf. Zur Reparatur der Dampfloks und Waggons entstanden in Lingen

Wagenabteilung 1912

östlich der Gleisanlagen die „Königlichen Bahnhofswerkstätten“. Über hundert Jahre bestimmte dieser Betrieb die Wirtschaftsstruktur und das Alltagsleben in der Stadt.

Als Hannover 1866 an Preußen kam, erhielt die Werkstätte den Titel „Königlich Preußische Eisenbahnhauptwerkstätte Lingen (Ems)“ und entwickelt sich innerhalb weniger Jahrzehnte zum größten Industriebetrieb und Arbeitgeber der Region mit weit über tausend Arbeitskräften.

„Klub Gemütlichkeit“ der Eisenbahner in Lingen

Die angeworbenen Arbeiter brauchten Wohnungen für ihre Familien und so entstanden entlang der Georgstraße, der Lengericher- und der Frerener Straße die „Langen Jammer“. Das waren kleine Reihenhäuser mit vier, sechs, acht oder manchmal noch mehr Wohnungen unter einem Dach. Wer es sich leisten konnte, baute eines der typischen kleinen Eisenbahnerhäuser, die man bis in die 70er-Jahre an vielen Stellen im Stadtgebiet sehen konnte – stets ausgestattet mit einem großen Gemüsegarten, Hühner- und Schweinestall. Die Eisenbahnerfamilien in Lingen hatten eine bescheidene, aber sichere Existenz.

Das Werk an der Kaiserstraße platzte mit dem zunehmenden Eisenbahnverkehr bald aus allen Nähten. Daher entstand 1910 zur Entlastung zwischen den Gleisanlagen und dem Kanal ein eigenes Werk für die Waggonabteilung.

Während des Ersten Weltkriegs nahm der Reparaturbedarf sprunghaft zu. Während des laufenden Betriebes wurde ein Teil der alten Werkshallen an der Kaiserstraße abgebrochen und hier entstand die riesige neue Lokrichthalle, der heutige Campus Lingen. Bei Kriegsende hatte sich ein großer Rückstau bei den Reparaturarbeiten gebildet und viele auswärtige Eisenbahner wurden nach Lingen versetzt. Zeitweise arbeiteten jetzt über 2000 Beschäftige im Ausbesserungswerk Lingen. Dem Wohnungsmangel begegnete man durch den Bau von Eisenbahnerwohnungen und Arbeitersiedlungen im Strootgebiet. So entstand im östlichen Stadtgebiet und in den angrenzenden Gemeinden Laxten und Darme eine regelrechte Eisenbahner-Vorstadt mit eigenen Vereinen, Geschäften und Eckkneipen.

In der NS-Zeit wurde aus der Keimzelle von Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung im Emsland ein „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“, der im Zweiten Weltkrieg kriegswichtige Aufgaben übernahm. Im Herbst 1942 wurden ganze Abteilungen der Lokreparatur nach Saporoshje in der Ukraine verlagert, um dort den Nachschub für die Wehrmacht zu sichern. Im Werk in Lingen setzte man dafür viele Kriegsgefangene und Zwangsarbeit ein. Bei den Luftangriffen auf Lingen 1944 zerstörten die Bomben große Teile der Werksanlagen.

Lokreparatur, um 1910

Nach dem Krieg bauten die Eisenbahner den Betrieb rasch wieder auf. Aber bald zeichnete sich ab, dass die Epoche der Dampflokomotiven und die große Zeit der Eisenbahn zu Ende ging. 1954 wurde das Wagenwerk geschlossen und in den folgenden Jahren auch die Dampflokreparatur immer weiter zurückgefahren. Mit der Elektrifizierung der „Emslandstrecke“ in den 70er-Jahren ging die Zeit der „Dampfrösser“ unwiederbringlich zu Ende. Andere Aufgaben konnten den Niedergang des Ausbesserungswerkes nicht aufhalten. Die letzten Eisenbahner zogen Anfang der 1990er-Jahre vom Werksgelände ab, das nun in einen langen Dornröschenschlaf fiel.

Das Wagenwerk wurde abgebrochen und an seiner Stelle entstanden die Emslandhallen. Die großen Industriebauten an der Kaiserstraße kamen unter Denkmalschutz und dienen nach aufwendiger Sanierung heute als Zentrum für Wirtschaft, Medien und Kultur sowie als Campus Lingen der Hochschule. In vielen Familien in Lingen aber erzählt man sich heute noch davon, dass „Opa auf der Bahn“ gearbeitet hat.