Erstes Industriegebiet lag an der Bahnhofsstraße
Vor dem Bau der Marienstraße war der Lingener Bahnhof von der Innenstadt aus nur vom Burgtor und vom Lookentor her zu erreichen. Diese Wege wurden bald ausgebaut und erhielten den Namen Bahnhofstraße. 1938 wurde sie umbenannt in Bernd-Rosemeyer-Straße. An die Geschichte dieser Straße erinnert die Folge 103 unserer Serie „Achtung, Aufnahme!“.
Vom heutigen Kreisverkehr an der Burgstraße aus standen rechts das Haus des Bauunternehmers Veltmann und die sogenannte Kaplanei, das Wohnhaus für die Kapläne und Vikare der Bonifatiusgemeinde. Beide Häuser stehen heute unter Denkmalschutz.
Ebenfalls noch erhalten sind auf der linken Straßenseite das Wohnhaus des Kaufmanns Greiner, Mitinhaber der Firma Klukkert, sowie das Haus der Kohlenhandlung Ahues, aus der sich später eine Baustoffhandlung entwickelte.
In der scharfen Rechtskurve stand früher die Gaststätte Kasten, später geführt von der Wirtin Mia Flachmann. Hieran schloss sich rückwärtig ein großes Mietshaus an.
Der Güterbahnhof, die heutige Tanzgalerie, bildete den zentralen Umschlagplatz für den Gütertransport in Lingen und Umgebung im Zeitalter der Dampfloks. Bahnpakete und Transportkisten wurden im Güterschuppen gelagert und an der Laderampe auf Kutschen und LKW verladen. Für Schüttgut wie Kohlen oder Baumaterial gab es einen großen Lagerplatz. Kaum zu glauben, aber über ein Ladegleis konnten die Waggons bis auf den Bahnhofsvorplatz gefahren und dort entladen werden.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entstand mit dem Eisenbahnbau Lingens erstes Gewerbegebiet, denn hier siedelten sich der Händler Pasi, der Kaufmann Essmann, der Schrotthändler Deppe, der Fahrzeugbetrieb Rosemeyer und der Wagenbauer Rehme an.
Die Wohnhäuser lagen vorne an der Straße und die Betriebsgebäude auf den Rückgrundstücken. Es herrsche drangvolle Enge. Daher siedelte Rosemeyer nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Autohaus an die Lindenstraße um.
Der traditionsreiche Kutschenbauer Rehme stellte statt Pferdewagen bald Spezialanhänger her. Als Versuchsstrecke diente der Verladeplatz vor dem Güterbahnhof. Auf dem Gelände der früheren Landeszentralbank (heute Rechtsanwaltskanzlei) standen einst das Mietshaus des Polizeikommissars Brandt mit einem dekorativen Fachwerkaufbau und an der Ecke zur Marienstraße das Lagerhaus des Kaufmanns Wolbeck, später Bräkel.
Das Bahnhofsgebäude wurde 1860 als Backsteinbau im Stil des Historismus in aufwendigen Bauformen errichtet. Alle Bahnhöfe der Königlich-Hannoverschen Eisenbahngesellschaft waren im gleichen Stil geplant und unterschieden sich nur in Größe und Ausführung.
Das Lingener Stationsgebäude fiel besonders stattlich aus, denn im linken Teil befand sich in den ersten Jahren das Postamt und im rechten Flügel ein geräumiges Bahnhofsrestaurant.
Der langjährige Bahnhofswirt Johannsen war gleichzeitig Kunstsammler und hatte den Speisesaal wie eine Kunstausstellung eingerichtet.
Direkt gegenüber stand das Bahnhofshotel Nave. Das mehrfach ausgebaute und erweiterte Hotel galt viele Jahrzehnte als das erste Haus am Platze. Hier übernachtete einst Prominenz aus Politik und Gesellschaft. Zu den Attraktionen des Hotels gehörte nicht nur eine Kellerbar mit Nachtlizenz, sondern auch ein Kinosaal für das „Kivelings-Filmtheater“.
An der Stelle des heutigen Busbahnhofs befand sich ein weiterer Umschlagplatz mit Ladegleisen. Entlang der Bahnhofstraße stand hier eine ganze Häuserzeile, zuvorderst die Fleisch- und Wurstwarenfabrik Höstensmeyer und Hinke. Das 1893 gegründete Unternehmen produzierte Knochen- und Rollschinken, Frisch- und Dauerwurst sowie Würstchen in Dosen und erhielt 1905 beim „Reichs-Schinken-Wettbewerb“ in Berlin eine Goldene Medaille.
Dahinter folgten das Wohnhaus des Bahnhofswirtes Johannsen und ein Lagerhaus der Warengenossenschaft Lohne. Gegenüber befand sich das Haus des Kaufmanns Koke, Besitzer der nahegelegenen Kokenmühle, nebst einem Lagerhaus für Mehl und Getreide (heute Architekturbüro Wolbeck).
Hieran schloss sich das Haus der Familie Galle an, in dem mehrere Mietparteien wohnten. Später entstand hier das Haus von Dr. Stüting.
Die schmucke Villa in der scharfen Kurve war einst Sitz des Rechtsanwaltes Müller. Dahinter ging die Bahnhofstraße dann in den Gertrudenweg über, die heutige Synagogenstraße.