Leibeigenschaft und Bauern in der Grafschaft Lingen

Gesetz von 1823 regelte die Rechte der Bauern und ihrer Höfe

Auch in der alten Grafschaft Lingen waren die Bauern bis in die Zeit um 1800 der Leibeigenschaft unterworfen und der Grundherrschaft unterworfen. Sie waren unfrei und quasi nur Erbpächter auf den Höfen ihrer Grundherrn. Dies waren zumeist Adelige oder kirchliche Institutionen. Die Abgaben und Dienstverpflichtungen gegenüber den Grundherren stammten in Art und Umgang größtenteils noch aus dem Mittelalter. Dieses veraltete Rechts- und Zahlungssystem war ein entscheidendes Hemmnis für die Rückständigkeit der Landwirtschaft im 18. Jahrhundert.

Französischer ‚Revolutionsteller‘: „vivre libre ou mourir“ (Lebe frei oder stirb), um 1800
„Le malheur nous réunit“ (Das Elend [der Bauern] eint uns) Originale im Emslandmuseum

Mit der französischen Revolution von 1789 wurde die Leibeigenschaft in Frankreich sofort und ersatzlos aufgehoben. Das nannte man die „Bauernbefreiung“ und die Kunde davon drang rasch in die Nachbarländer.

Bald besetzen die französischen Revolutionsheere und später die Truppen Napoleon weitere Länder Europas. Die Grafschaft Lingen kam an das von Napoleon gegründete ‚Großherzogtum Berg‘, einen Vasallenstaat mit einer Verwaltung nach französischen Muster. Auch dort wurde nun das französische Recht eingeführt und die leibeigenen Bauern wurden damit über Nacht freie Leute, die über ihre Höfe und ihr Vermögen frei verfügen konnten. Für die Grafschaft Lingen hatte Napoleon dies bereits im Jahr 1808 verkündet. Alle älteren preußische und münsterische Regelungen waren damit aufgehoben.

Napoleon Bonaparte

1815 kam die Grafschaft Lingen an das Königreich Hannover und damit war die Rechtslage des Bauernstandes erst einmal unklar. Die preußischen und französischen Regelungen zur Bauernbefreiung wurden für unwirksam erklärt. Dies sorgte für erheblichen Unmut in der Landbevölkerung.

Die Verordnung von 1823 für die Grafschaft Lingen

Zur Klärung erließ der König von Hannover am 31. Mai 1823 eine „Verordnung, betreffend die bäuerlichen Verhältnisse in der niederen Grafschaft Lingen“ Darin wird gleich in Paragraf 2 festgestellt: „Das Leibeigenthum, nebst allen daraus für die ehemaligen Eigenbehörigen hergeflossenen Folgen, ist bereits völlig aufgehoben.“ Die mit der Leibeigenschaft verbundenen Zahlungen, insbesondere der Freikauf aus dem Leibeigentum des Grundherrn, wurden ebenfalls für aufgehoben erklärt. Gleiches galt für die Fron- und Arbeitsdienst beim Grundherrn, die sogenannten Hand- und Spanndienste, also etwa die Hilfe in der Landwirtschaft oder Fuhrdienste.

Von den jährlichen Pachtzahlungen konnten die Bauern sich freikaufen, indem sie die 25fache Jahrespacht an ihre früheren Grundherrn zahlten. Das war beträchtlich und konnte in der Regel nur über viele Jahre abbezahlt oder durch Kredite finanziert werden. Manche Höfe, die bereits verschuldet waren, gingen dadurch sogar in Konkurs.

Weitere mit dem Hof verbundene Verpflichtungen, etwa die Zahlungen und Abgaben bei der Hofübergabe („Auffahrt“) und im Todesfall („Sterbfall“), wurden ebenfalls aufgehoben. Da sie aber nicht mit der persönlichen Freiheit, sondern mit dem Grundbesitz verbunden waren, mussten sie ebenfalls gegen eine Geldzahlung beim Grundherrn abgelöst werden.

Im Gegenzug wurden die Bauern nun als rechtmäßige Eigentümer ihrer Höfe anerkannt und in die Grundbücher eingetragen. Sie konnten Grundstücke beleihen oder verkaufen und ihren Besitz frei vererben. Dazu gehörte auch die Aufteilung oder Zerstückelung eines Hofes

Für die Bewohner der Bauernhöfe brachte das Gesetzt von 1823 viele neue Rechte
(Hof Beestermöller in Beesten)

Um die Bauernhöfe in ihrem Bestand zu erhalten, wurde 1823 zugleich ein neues Erbrecht für die Bauernhöfe erlassen. Sie durften in ihrem genau festgelegten Kernbestand nicht geschmälert werden, die Teilung oder der parzellenweise Verkauf mussten als Ausnahmefall von der Regierung genehmigt werden. Dies war aus Sicht des Staates wichtig, weil mit den alten Höfen die sogenannten „Reallasten“ verbunden waren. Das waren bestimmte Abgaben an den Staat und an die Kirche, die an der jeweiligen Hofstelle klebten. Wurde ein Hof geteilt, musste die zukünftige Aufbringung dieser Lasten verbindlich geregelt werden.

Es ist daher kein Wunder, dass die Verordnung von 1823 ein umfangreiches Höfe- und Erbrecht aus ingesamt 50 Paragrafen umfasst. Wesentliche Grundzüge der damaligen Verordnung finden sich bis heute im niedersächsischen Höferecht.

Quellen:

Sammlung der Gesetze, Verordnungen und Ausschreibungen für das Königreich Hannover vom Jahre 1823. Hannover 1823. Bibliothek des Emslandmuseums Lingen, Bestand Amtsgericht Lingen, LII 16.

Hans Heinrich Seedorf: Bauernbefreiung und Agrarreformen in Niedersachsen. ‎Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1989.

Siehe auch den Artikel: „Leibeigenschaft im Emsland bis in 19. Jahrhundert“ auf diesem Blog https://emslandmuseum.de/2020/11/30/leibeigenschaft-im-emsland-bis-ins-19-jahrhundert/