Lingen in den 20er-Jahren
1918 war der Erste Weltkrieg für Deutschland endgültig verloren. Der Kaiser ging ins Exil und Deutschland wurde eine Republik. Doch die Kriegsfolgen wie Staatsbankrott, Wirtschaftskrise und Hyperinflation überschatteten auch in Lingen noch etliche Jahre den Alltag der Menschen.
Im November 1918 übernahm in Lingen ein Arbeiter- und Soldatenrat das Kommando über Stadt und Landkreis. Die Arbeiter des Ausbesserungswerkes waren daran beteiligt, aber es überwogen die konservativen Kräfte. Wichtigste Aufgabe war die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln.
Die Ernährungslage verschlechterte sich so stark, dass es im Frühjahr 1919 zu Hungerdemonstrationen auf dem Marktplatz kam. Durch Absprachen mit den Landgemeinden konnte die größte Not beseitigt werden.
Der Schock über den verlorenen Krieg saß tief. Der Tod von Millionen Soldaten hatte sich als sinnlos erwiesen und die Wirtschaft lag am Boden. Die Arbeitslosigkeit stieg. Viele Familien hatten ihr Geld in Kriegsanleihen investiert, die nach dem Sieg aus Reparationszahlungen der Kriegsgegner zurückgezahlt werden sollten. Doch nun war klar, dass daraus nichts würde. Die hohe Staatsverschuldung führte dann 1923 zur Hyperinflation, bei der viele Sparer ihr Geldvermögen verloren. Breite Bevölkerungsschichten fielen in Armut.
Deutschland war nun eine Republik und das Wahlrecht in der neuen Demokratie galt für alle gleich, auch für die Frauen. 1921 machte Bertha Gelshorn als erste Frau am Gymnasium Georgianum ihr Abitur und studierte anschließend Jura. Ansonsten lag die Gleichberechtigung noch in weiter Ferne.
In Lingen dominierte die Katholische Zentrumspartei, doch auch die Sozialdemokraten hatten unter den Arbeitern des Ausbesserungswerkes viele Anhänger. 1921 wurde der Polizeikommissar Hermann Gilles von der Zentrumspartei zum Bürgermeister gewählt. Seine Amtszeit war geprägt durch zahlreiche Krisen in Deutschland und Gilles bemühte sich, die Folgen für Lingen gering zu halten. Erfolglos versuchte er, den Einfluss der Nationalsozialisten in Lingen mit polizeilichen Mitteln gering zu halten. Anfang April 1933 wurde er vom neuen NSDAP-Kreisleiter Plesse abgesetzt.
Beim wichtigsten Arbeitgeber der Stadt, dem Eisenbahnwerk, herrschte nach dem Krieg zunächst Hochbetrieb. Viele überfällige Wartungen und Reparaturen mussten nachgeholt werden. Außerdem forderten die Siegermächte zur Wiedergutmachung Lokomotiven und Waggons von Deutschland, die vertragsgemäß in Top-Zustand sein mussten. Viele auswärtige Eisenbahner wurden zur Unterstützung nach Lingen versetzt.
Sie suchten händeringend nach Unterkünften und es herrschte große Wohnungsnot. Daher wurden im Strootgebiet neue Mietshäuser und Arbeitersiedlungen errichtet.
Mitte der Zwanziger Jahre besserte sich die wirtschaftliche Situation. 1925 wurde ein Neubau für die Reichsbank an der Burgstraße errichtet (heute Emslandmuseum) und im gleichen Jahr die Bürgermeistervilla an der Wilhelmstraße. Mit dem Anschluss an das überregionale Elektrizitätsnetz begann 1926 auch in Lingen ein neues technisches Zeitalter.
Am 1. Juni 1927 zog ein Wirbelsturm mit seiner Windhose über das Lingener Stadtzentrum hinweg und hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Zahlreiche Häuser waren zerstört oder schwer beschädigt und von vielen Häusern waren die Dachziegel hinweggeweht.
1928 wurde der Viehmarkt aus der Innenstadt und vom Alten Pferdemarkt zum neuen Zentralviehmarkt an der alten Rheiner Straße hinter der Kokenmühle verlegt. Dort war eine direkte Verladung des Viehs in Eisenbahnwaggons möglich. Damit hatte der Viehauftrieb in den Straßen und Gassen der Innenstadt ein Ende.
Am Ende des Jahrzehnts wurde der Neubau einer Jugendherberge eingeweiht (heute DRK-Gebäude). Man wertete die Eröffnung damals als Beginn einer neuen, besseren Zeit für die deutsche Jugend. Doch diese Hoffnung war trügerisch.