Wie das Haus von Dr. Beckmann in der Lookenstraße Trümmer fiel
Manchmal hilft bei der Dokumentation der Stadtgeschichte einfach der Zufall. In der vergangenen Woche trafen wir auf dem Marktplatz Elke Garcia und ihre Schwester Hilfe Riegel aus Aachen, die gerade ihre Heimatstadt Lingen besuchte.
Sie sind Töchter des Lingener Arztes Dr. Julius Stüting und Enkelinnen des Lingener Arztes Dr. Ferdinand Beckmann. Und beide sind die letzten noch lebenden Bewohnerinnen des alten Hauses Lookenstraße 14, einem vornehmen Wohnhaus, das Anfang April 1945 bei den schweren Häuserkämpfen in der Lingener Innenstadt durch englische Flammenwerferpanzer völlig zerstört wurde. Bei einem Interview berichteten die Schwestern über ihre Erinnerungen die Luftangriffe 1944, das Kriegsende 1945 und die Nachkriegszeit.
Die beiden Damen konnten sich an das stattliche Anwesen an der Lookenstraße, das ihr Großvater Dr. med. Ferdinand Beckmann kurz nach 1900 erworben hatte, noch gut erinnern. Das Haus hatte – einzigartig in der dicht bebauten Innenstadt – einen Vorgarten, den eine Mauer mit stattlichen Pfeilern von der Straße trennte. Die klassizistische Fassade war aus Backstein gemauert, Haustür und Fenster zeigten Umrahmungen aus Sandstein. Ein Mansarddach sowie ein großer Dachausbau mit einer Balustrade gaben dem Gebäude ein herrschaftliches Erscheinungsbild.
Über ein paar Treppenstufen gelangte man durch die Haustür in das Parterre. Zur Straße hin befanden sich zwei Salons und rückwärtig das Behandlungszimmer. Zentrum des Hauses war eine große Küche auf der Gartenseite. Sie war mit einem Kamin ausgestattet und mit Eichenholz vertäfelt. Zum weitläufigen Garten hin gab es eine große Terrasse. Unter dem Haus befand sich ein geräumiger Gewölbekeller, der auch im Sommer kühl und feucht war. Der Überlieferung nach war einst ein holländischer Weinhändler der Bauherr des Hauses.
Dr. Ferdinand Beckmann starb 1941. Sein gleichnamiger Sohn und sein Schwiegersohn Dr. Ferdinand Stüting wurden im Laufe des Kriegs als Militärärzte zur Wehrmacht einberufen und die Arztpraxis in der Lookenstraße geschlossen.
Hilde Riegel, Jahrgang 1935, kann sich noch gut an die letzten Kriegsjahre in Lingen erinnern. Es gab häufig „Luftalarm“ und wenn es im Rundfunk hieß: „Friedrich – Paula“ (für die Felder F und P im Luftschutz-Koordinatensystem), dann wusste man, dass die Flugzeuge bald über Lingen erscheinen würden und es ging rasch in den Luftschutzkeller. Flogen die Verbände an Lingen vorbei, dann musste man damit rechnen, dass einige Maschinen auf dem Rückflug noch restliche Bomben abwarfen. Daher musste man so lange im Keller bleiben, bis Entwarnung gegeben wurde. Die Familien Beckmann und Stüting nutzten als Luftschutzraum ihren Gewölbekeller. Der war aber sehr feucht. Alles fühlte sich klamm an und bei längerem Aufenthalt bekam man schlecht Luft.
Einige Lingener hörten trotz Verbot und Strafandrohung den Englischen Sender und dort hieß es: „Lingen ist ein kleines Loch, aber Lingen finden wir doch“. Es war klar, dass die Stadt wegen des Eisenbahnwerkes früher oder später Ziel eines großen Luftangriffes werden würde.
Im Herbst 1944, es war der Geburtstag der Mutter, besuchten die Kinder das Kino im Hotel Heskamp in der Marienstraße. Dort lief der Märchenfilm „Der gestiefelte Kater“. Plötzlich gab es Luftalarm und alles Zuschauer, die meisten waren Kinder, mussten sofort aus dem Kino heraus in den Luftschutzkeller bei Adelmann. Auf dem Weg dorthin flog ein Tiefflieger schon über Lingen und man konnte die Abzechen der Royal Airforce erkennen. Erst nach mehreren Stunden wurde der Luftalarm aufgehoben und die Kinder konnten nach Haus zurückkehren.
Die Lookenstraße war damals noch die Hauptdurchgangsstraße von Lingen und in der engen Kurve auf dem Andreasplatz mussten alle Fahrzeuge abbremsen, so dass man sie vom Hause Beckmann aus gut beobachten konnte.
Beim Rückzug der Deutschen aus den Niederlanden sah man zuerst große LKW, beladen mit eleganten Möbeln, Gemälden und Teppichen – alles von den Nazis vor dem Abzug in den Niederlanden gestohlen. Doch das war nur eine kurze Phase. Bald folgten Pferdewagen mit einfachem Gepäck und schließlich kamen Soldaten auf Fahrrädern. An den letzten Tagen sah man dann nur noch einfache Soldaten zu Fuß, ohne Ausrüstung, ohne Verpflegung und total erschöpft.
Der Durchzog der Front zeichnete sich ab. Die Familien Beckmann und Stüting beschlossen, aus der Innenstadt zu flüchten und fanden Aufnahme beim Bauern Specker in Neuholthausen. Dort hatten sich viele aus Lingen geflüchtete eingefunden. Einige hatten beim Zug durch die Innenstadt schon in Geschäften geplündert und führten alles mögliche auf ihren Handwagen mit sich. Auch bei der Verteilung von Lebensmitteln drängten sich einige rücksichtslos vor. Recht und Ordnung hatten sich aufgelöst.
Von Neuholthausen aus konnte man die Kämpfe in Lingen hören und über der Stadt stiegen Rauchfahnen auf. Beim Brotholen in Bawinkel erfuhr die Familie, dass ihr Haus in der Lookenstraße total zerstört sei.
Als Beckmann und Stüting in die Stadt zurückkehrten, fanden sie von ihrem Haus tatsächlich nur noch eine ausgebrannte Ruine. Er erhielten zunächst Aufnahme bei den Nachbarn John und Berning und bekamen dann eine Wohnung auf den Bögen zugewiesen, aus der man einen der führenden Nazis von Lingen, Revermann, herausgeworfen hatte. Später bauten Stüting ein Wohnhaus an der Bernd-Rosemeyer-Straße und Beckmann zogen in die Neue Straße.
Die Trümmer des Hauses Lookenstraße 14 wurden bald abgefahren. Da ein Wiederaufbau des Hauses nicht in Frage kam, wurde das Grundstück verkauft.
In den 50er-Jahren entstand dort ein Neubau für das Textilhaus Leffers. Heute befindet sich dort der Textildiscounter H&M.