Ankunft eines Flüchtlingstransportes aus Langenbielau (heute Bielawa) in Lingen
Im Winter 1944/45 begann mit dem Vormarsch der Roten Armee auf deutsches Gebiet die letzte Phase des Zweiten Weltkriegs im Ost. Nachdem die Deutschen
5 Jahre lang ganze Völkerschaften in Europa umgesiedelt und Millionen Menschen ermordet hatten, begann jetzt die Flucht der Deutschen vor der Roten Armee.
Mit dem Kriegende am 8. Mai war diese Massenflucht noch nicht zu Ende. Millionen Deutsche hielten sich zu diesem Zeitpunkt noch im Gebiet jenseits von Oder und Neiße auf. Nun beschlossen die Alliierten, sie aus diesen Gebieten zu vertreiben, um Ostpreußen, Pommern und Schlesien dem polnischen und dem sowjetischen Staatsgebiet anzugliedern.
Im Winter 1945/46 begannen die Polen mit „wilden Vertreibungen“ der Deutschen nach Westen. Die Militärverwaltungen der vier Besatzungszonen waren darauf nicht vorbereitet. Daher vereinbaren die Briten und die Polen die sogenannte „Operation Schwalbe“, bei der mit Deutschen aus den nunmehr polnischen Gebieten „in geordneter Weise“ mit Transportzügen in Richtung Westen abgeschoben werden sollten. In der Britischen Zone wurden Auffanglager eingerichtet (die bekanntesten waren Marienborn und Alversdorf), in denen die Vertriebenen registriert und dann auf die Regierungsbezirke bzw. Landkreise verteilt wurden.
Im Frühjahr 1946 trafen die ersten Transporte in Lingen ein. Zu diesem Zeitpunkt waren alle regulären Unterkünfte im Kreis Lingen bereits mit Flüchtlingen aus Ostpreußen und Pommern überfüllt. Daher mussten die Vertriebenen, zum größten Teil waren es Schlesier, in die Landgemeinden und dort in Privatwohnungen einquartiert werden. Die Einheimischen waren alles andere als Begeistert.
Ein Zeitzeuge aus Langenbielau – heute Lingens polnische Partnerstadt Bielawa – berichtet über seine Ankunft in Lingen vor 75 Jahren: „Dann kamen wir also am 18. April in Lingen auf dem Bahnhof an. Da sind wir dann in Lingen auf die Dörfer verteilt worden. Wir haben unsere Nachbarschaft und auch meine Verwandten, die mit waren, zusammengehalten und wurden dann auf einem Lastwagen nach Duisenburg verfahren…
Da sträubten sich dann die Bauern, denn das waren ja Belastungen und die mussten ja wirklich zum Teil Wohnzimmer räumen und manche hatten auch kleine Wohnungen. Es war natürlich auch für die Einheimischen eine Belastung. Das war uns auch klar. Und keiner wusste, wie lange das dauert und es hat zum Teil nachher jahrelang gedauert. Viele sind auch in Dachkammern untergebracht worden…“
Nach diesen Sammeltransporten im Frühjahr und Sommer 1946 waren die Aufnahmekapazitäten im Raum Lingen mehr als erschöpft. Selbst Backhäuser und Stallungen auf den Bauernhöfen, Wochenendhäuser und Fischerhütten an der Ems, Wehrmachtsbaracken und frühere Flakstellungen hatte man zu Notwohnungen für die Flüchtlinge umfunktioniert. Doch oft schilderten Zeitzeugen, sie hätten sich in diesen Notquartieren noch besser gefühlt als jene Leidensgenossen, deren Familien auf verschiedene Haushalte verteilt wurden.
Der damals 17jährigen Axel Wisnieswky berichtet über seine Vertreibung aus Langenbielau und seine Ankunft in Lingen 1946: „Ende März begannen die ersten Ausweisungen. Wir hatten uns darauf vorbereitet. Mitnehmen durfte man nur was man auch tragen konnte. Trotzdem stellten wir einen alten Handwagen bereit. Dann kam der 10. April 1946. Es müssen drei Transporte schon in den Tagen vorher herausgegangen sein, denn wir kannten das Procedere.
Wir waren völlig überrascht, als vormittags gegen 10 Uhr ein Miliz-Kommando auf dem Hof stand, den Ausweisungsbefehl vorlas und erklärte, in einer Stunde gehe es los. Wir hatten alles vorbereitet, doch waren wir irritiert über dieses Vorgehen. Und dann marschierten wir, von 6 oder 8 Milizleuten umringt, Richtung Niederlangenbielau. Dort stand ein mit Pferden bespannter Plattformwagen und wir konnten unser Gepäck verladen. Zu Fuß ging es nun die 4 Kilometer weiter nach Reichenbach, wo wir in einer Schule einige hundert Langenbielauer und Reichenbacher antrafen, die auf die Verladung warteten.
Am nächsten Vormittag ging es zu Fuß zum Bahnhof, wo ein langer Güterzug stand, in den wir verladen wurden. Ich habe noch ein Dokument, auf dem namentlich alle Personen aufgeführt sind, die im Waggon Nr. 21 fahren sollten. Außerdem war aufgeführt, was jeder an Verpflegung mit sich führte.
Niemand wusste, wie lange wir unterwegs sein würden. Es hieß: raus, aber nicht wohin. Gegen Mittag ruckte der Zug an und wir fuhren Richtung Schweidnitz-Königszelt, einem großen Verschiebebahnhof. Immer wieder wurde auf der Strecke gehalten, es ging gemächlich voran. Das Wetter war erträglich, trocken und nicht mehr kalt.
Am zweiten Tag erreichten wir den großen Bahnhof Schweidnitz. Weiter fuhren wir über Kohlfurt, kamen über die Lausitzer Neisse nun in die sowjetische Besatzungszone, fuhren langsam, immer wieder haltend, Richtung Magdeburg, um dann über die Zonengrenze bei Helmstedt die englische Zone zu erreichen. Am späten Nachmittag des 13. April erreichten wir das Auffanglager Alversdorf zwischen Helmstedt und Schöningen. Wir waren im Westen!
Am folgenden Tag wurden wir entlaust, registriert und mit Verpflegung versorgt. Nun erhielten wir das erste offizielle Dokument, den Flüchtlings-Meldeschein. Mein Schein Nr. 147 742 trägt den Vermerk: „Verwiesen aus Reichenbach“ – „Bestimmungsort Lingen“, wobei das Wort „gewünscht“ durchgestrichen wurde. Darüber kam ein Stempel: „Nur gültig im Kreis Lingen“. Nun wussten wir, wo es hingehen sollte. Wie wir bald hörten, kamen nicht alle Insassen unseres Zuges nach Lingen, sondern ungefähr ein Drittel blieb in der Braunschweiger Gegend. Aber wo war Lingen? Es sollte in der Nähe der holländischen Grenze liegen.
Am Mittwoch dem 16. April verließen wir, diesmal in einem Personenzug, das Lager und fuhren über das zerbombte Braunschweig und Hannover Richtung Westen. Es wurde Abend und kein Ende der Fahrt. Gegen 22 Uhr hielten wir in einem Bahnhof, rangierten auf eine Ladestraße und es hieß: wir sind da, wir sind in Lingen (Ems). Alles verbleibt eine Nacht im Zug, nur Alte und Kranke werden in der Nähe in einen Gasthaus-Saal gebracht.
Wir brachten die alten Leute zum Hotel zur Post, wo ein Matratzenlager eingerichtet war. Am nächsten Morgen wurden wir vom Roten Kreuz mit einer tollen Milchsuppe verpflegt und dann begann die Aufteilung auf die verschiedenen Dörfer im Landkreis. Die Stadt Lingen wurde nicht mit Vertriebenen belegt. Mein Vater hörte sich etwas um und erfuhr, dass Darme gleich an Lingen angrenze und 60 Flüchtlinge, wie man hier sagte, bekäme. Das war eine gute Nachricht, denn es sollte auch Dörfer geben, die bis 20 Kilometer von Lingen entfernt lägen. Wir suchten unter Langenbielauern und auch Peterswaldauern die nötige Anzahl, meldeten uns beim Aufruf Darme und wurden auf einen uralten LKW mit Anhänger verladen. Wir fuhren zur alten Postschule, wurden in den Pavillons nochmals entlaust und dann ging es nach Darme.
In der Dorfmitte hielten wir am Gemeindebüro, wurden von Bürgermeister Stafflage begrüßt und fuhren weiter zur Darmer Schule am Kanal, wo wir nun zu den Familien eingewiesen wurden, die uns aufnehmen sollten. Neben uns vier Wisnieskys war Lotte Hildenbrand, eine Freundin meiner Schwester, mit ihren zwei Jungen im Alter von 4 und 5 Jahren und ihrem Hausmädchen nach Darme gekommen. Es hieß, das Grevings Hof acht Flüchtlinge aufnehmen sollte, und wir hoben die Hand.
Und wo war Grevings Hof? Immer am Kanal entlang, dann beim „Grünen Jäger“ über die Brücke, weiter am Kanal lang und das wäre es das 3. Haus auf der rechten Seite. Mutter meinte, wir sollten erst einmal die Lage sondieren. Und los ging es, ca. 20 Minuten zu Fuß bis zum Hof. Oma Greving und Tochter Meyer zu Holle waren nicht gerade begeistert, doch wir erwähnten, dass Lotte Hildenbrand schnellstens zu ihren Schwiegereltern nach Süddeutschland gehen würde, sobald sie Kontakt aufgenommen hätte. Langer Rede kurzer Sinn: Wisniewsky bekamen im Erdgeschoß zwei kleine Zimmer, uralt möbliert, Lotte Hildenbrand im Obergeschoss zwei Räume. Auf dem Flur im Obergeschoss war ein Kanonenofen aufgestellt, auf dem sollten wir für uns acht kochen.
Wir baten um einen Handkarren, gingen zu Schule zurück, holten unsere Habseligkeiten und zogen mit Hildenbrands zu Grevings Hof zurück, packten das wenige aus, bekamen von unseren neuen Wirtsleuten etwas zu essen und sanken todmüde in unsere Betten. Es war der erste Band in Darme und Gründonnerstag 1946. Wir waren angekommen, doch an die Zukunft mochte heute keiner denken.“
1996 erstellte das Emslandmuseum Lingen die umfangreiche Dokumentation „Alte Heimat – Neue Heimat. Flüchtlinge und Vertriebene im Raum Lingen nach 1945“. Der 400 Seiten starke Band enthält Aufsätze von namhaften Historikern und zahlreiche Zeitzeugenberichte. Kurz vor der Drucklegung, die aus Mitteln der Johann-Alexander-Wisniewsky-Stiftung erfolgte, bat Herr Wisniewsky, die Auflage des Buches auf 2000 Exemplare zu verdoppeln, damit das Buch auch langfristig zur Verfügung steht.
Daher sind noch Exemplare vorhanden, die im Emslandmuseum zum Preis von 10 Euro erworben werden können.
Bestellungen wegen der derzeitigen Infektionslage bitte telefonisch unter (0591) 47601 oder per Email an museum.lingen@t-online.de
Die Zeitzeugenberichte im obigen Text sind diesem Buch entnommen. Unter anderem wird darin auch das Schicksal von Philomena Lesicki geschildert, die aus der Glatz in Schlesien in das Emsland kam.
Die Bilder von der Flucht und der Vertreibung 1945/46 stammen ebenfalls aus dem Band „Alte Heimat – Neue Heimat“ und wurden uns seinerzeit freundlicherweise vom Deutschen Historischen Museum in Berling sowie von der Zentralstelle Grafschaft Glatz in Lüdenscheid zur Verfügung gestellt.