Richtfeste in früheren Zeiten
Das Frühjahr war in den Zeiten, als man die meisten Häuser noch aus Fachwerk baute, auch die Zeit der großen Richtfeste. Hatte der Zimmermann im Winter im Wald
die dicken Eichen gefällt und anschließend auf dem Richtplatz zu Balken und Pfosten, Sparren und Riegeln zurechtgezimmert, so folgte im Frühjahr das Richtfest als Höhepunkt seiner Arbeit.
Mangels Autokrans und schwerem Gerät brauchte man dazu viele Helfer aus der Nachbarschaft und der Verwandtschaft. Die kostenlose Hilfe beim Hausrichten war nach den ungeschriebenen Gesetzen der Nachbarschaft eine Pflicht, die man nicht verweigern durfte. Ganz ungefährlich war diese Arbeit nicht, denn wenn die schweren Balken beim Richten erst einmal ins Rutschen kamen, dann gab es kein Halten mehr. Die Helfer waren eben keine erfahrenen Profis und mancher trat mit einem bangen Gefühl zum Hausrichten an. Unfälle waren häufig und manchmal wurden dabei auch Helfer von den Balken erschlagen.
Deshalb fand das Hausrichten, die „Husböringe“, auch nur bei gutem Wetter statt. Kündigte sich Regen oder gar Sturm an, wurde alles abgeblasen. Lachte die Frühlingssonne, dann sammelten sich schon frühmorgens allen Helfer unter der Leitung eines erfahrenen Zimmermanns auf dem Richtplatz und machten sich nach einem kurzen Gebet für einen guten Verlauf des Tages an die Arbeit.
Entsprechend der Anweisungen des Zimmermeisters wurden die Hölzer zusammengesteckt und mit Holznägeln verdübelt. Dann folgte das Aufrichten der ersten Bauteile und schließlich kam der schwierigste Part: das Anheben und Hinaufreichen der schweren Balken. Stand der Unterbau aus Ständerwerk und Wänden, dann konnten die Sparren paarweise aufgestellt werden. Bald war das Dachwerk vollendet – bis auf den letzten Sparren. Dieser war aus unerfindlichen Gründen plötzlich nicht mehr auffindbar. Ein paar pfiffige Nachbarn oder Helfer hatten ihn bei Seite geschafft und rückten ihn erst wieder heraus, wenn er vom Bauherrn mit Schnaps und Bier ausgelöst wurde.
Inzwischen hatte der Zimmermann frisches Birkengrün besorgt oder die Nachbarn hatten sogar einen Richtkranz vorbereitet. Dieser wurde vor aller Augen am letzten Sparren aufgehängt. Dazu ertönte das Klopfkonzert, bei dem die Zimmerleute mit ihren Hämmern auf die Sparren schlugen. Dann sagte der Zimmermann den Richtspruch auf: „Fest steht der Bau in Riegel und Pfosten – und wird den Bauherrn ein Trinkgeld kosten“.
Überschwänglich lobte er dann in launigen Versen das prächtige Bauwerk und ermunterte immer wieder den Bauherrn, sich dafür auf die ein oder andere Weise bei den Bauleuten erkenntlich zu zeigen – am besten mit Essen und Trinken. Der Bauherr bedankte sich für das gelungene Werk und zum Schluss sangen alle gemeinsam „Großer Gott wir loben Dich“. Dann konnte der gemütliche Teil des Richtfestes beginnen und nun wurden auch reichlich Getränke ausgeschenkt. Nach dem gemeinsamen Abendessen kamen die Frauen hinzu und oft gab es am Abend des Richttages Musik und Tanz für alle Helfer.
Bei öffentlichen Bauten wurde das Richtfest früher groß gefeiert. Minister und Landräte, Ratsleute und Bürgermeister hielten Ansprachen und auch alle Bauhandwerker wurden aus diesem Anlass zu einem Fest eingeladen. Heute ist der Zeitplan auf vielen Baustellen so eng terminiert, dass selbst für ein Richtfest keine Zeit mehr bleibt. Und schwere Hölzer zu richten braucht man auf einer Baustelle heute in der Regel auch nicht mehr.