Das Jahrhunderthochwasser 1946 an der Ems
Genau 75 Jahre ist es in diesen Tagen her, seit im Februar 1946 zahlreiche Flüsse in Nordwestdeutschland über die Ufer traten. Städte und ganze Landstriche
wurden überflutet. Die Katastrophe traf die Bevölkerung besonders hart, denn das Kriegsende lag erst wenige Monate zurück und damit auch der totale Zusammenbruch der Kriegswirtschaft und der Versorgungseinrichtungen. Brennstoffe waren im ersten Kriegswinter äußerst knapp, Lebensmittel ohnehin. Viele Städte waren ausgebombt und Hausrat aller Art war Mangelware.
Dann kam auch noch die große Flut und vernichtete die in den Kellern lagernden Brennstoffvorräte und Lebensmittel, zerstörte die Einrichtungen in den Erdgeschossen und richtete auch an der öffentlichen Infrastruktur schwere Schäden an.
Nach der Schneeschmelze und tagelangen Niederschlägen Anfang Februar war der Boden bereits mit Regenwasser gesättigt und die Flüsse angeschwollen, als großflächig starker Regen einsetzte. Nun traten die Flüsse über die Ufer. Weser und Leine, aber auch Ems, Berkel und Aa, Vechte und Dinkel. Städte wie Borken, Bocholt und Anholt an der Aa, Coesfeld, Stadtlohn und Vreden an der Berkel, allesamt vom Bombenkrieg zerstört, soffen regelrecht ab. Auch große Teile der westfälischen Provinzhauptstadt Münster standen unter Wasser. Eingestürzte Brücken und Trümmerschutt behinderten den Wasserablauf zusätzlich, waren aber nicht die eigentliche Ursache der Naturkatastrophe.
Entlang der Ems setzte sich eine regelrechte Flutwelle in Bewegung, deren Verlauf später an den aufgezeichneten Pegelständen ablesbar war. Der Scheitelpunkt der Hauptflutwelle erreichte am 9. Februar um 2 Uhr nachts den Schlosspark in Rheda und um 18 Uhr Telgte, am Tag darauf um 2 Uhr Greven, gegen 10 Uhr Emsdetten und um 20 Uhr Rheine. Am Emswehr in Hanekenfähr bei Lingen wurde der Höchststand am 11. Februar um 12 Uhr und in Meppen am 12. Februar um 1 Uhr nachts gemessen. Am 13.2. gegen 10 Uhr erreichte die Hauptflutwelle Papenburg und um 16 Uhr Leer, am 14.2. um 2.30 Uhr dann die Seeschleuse in Emden.
Die Katastrophe war also absehbar. Doch die Behörden, die für den Warndienst zuständig waren, hatte man beim Kriegsende teilweise aufgelöst oder sie waren technisch und organisatorisch noch nicht wieder handlungsfähig. Vor allem mangelte es an der überregionalen Koordination. Daher kam die Flut für die örtlichen Behörden in Warendorf und Telgte, Greven und Rheine ziemlich überraschend und es blieb nur die Evakuierung der flussnahen Stadtviertel und Bauernhöfe.
Nördlich von Rheine, im flachen Gelände des Emslandes, trat die Ems großflächig über die Ufer. Auf vielen Bauernhöfen entlang der Ems überraschte das Hochwasser die Bewohner im Schlaf. Unter großen Gefahren musste das Vieh gerettet werden. Nicht alle Kühe erreichten bei nächtlicher Dunkelheit in den reißenden Fluten das rettende Ufer.
Am Wasserstraßenknotenpunkt Hanekenfähr südlich von Lingen staute sich vor dem großen Emswehr und den Kanalschleusen eine gewaltige Flutwelle, die sich schließlich ihren Weg in den Dort-Ems-Kanal bahnte. Dafür waren die Kanaldämme aber nicht ausgelegt. Der Wasserpegel im Kanal stieg rasch an.
Und während sich bei Lingen die Rettungskräfte noch auf die Sicherung der Emsdeiche mit tausenden von Sandsäcken konzentrierten, geschah das Unerwartete quasi im Rücken der Helfer: der hoch aufgeschüttete Kanaldamm brach in Richtung Lingen.
Innerhalb kürzester Zeit stand die gesamte Innenstadt etwa 1,5 Meter unter Wasser. Weil keine Warnung erfolgt war, hatte niemand die Keller und Erdgeschosse geräumt. Die Schäden waren entsprechend hoch.
Auch in Meppen, wo die Flutwellen von Ems und Hase aufeinandertrafen, soff die gesamte Innenstadt ab. Nur der Hügel mit der Kirche ragte wie eine Hallig aus den Fluten.
In Haren, damals Maczkow, überraschte das Hochwasser die polnische Besatzung der Stadt, die zunächst an einen Sabotageakt der Deutschen glaubte. Aber es war „nur“ eine Naturkatastrophe.
Weiter nördlich ergossen sich die Fluten kilometerweit in die Flächen des nördlichen Emslandes und Ostfrieslands. Das Wasser stand hier nicht so hoch, wollte dafür aber wochenlang nicht ablaufen, während weiter südlich die Welle rasch abflachte und das Wasser sich wieder zurückzog. Nun wurde das Ausmaß der Schäden sichtbar, denn es war ja kein sauberes Quellwasser, das sich dort in Keller und Wohnräume, Geschäfte und Betriebe ergoss, sondern eine stinkende Brühe mit viel Schlamm und Gefahrenstoffen.
Trotz aller Schrecken markierte das Februarhochwasser 1946 einen ersten Wendepunkt in der Nachkriegszeit. Die britischen Besatzungsbehörden traten zum ersten Mal in einer großen Aktion als Helfer auf, retteten Menschen aus den Fluten und versorgten die Eingeschlossenen in ihren Häusern. Der frühere Feind übernahm die Verantwortung für die Bevölkerung in seiner Besatzungszone. Britisches Militär und deutsche Hilfskräfte arbeiteten angesichts der Katastrophe Hand in Hand.
Im Rückblick der Zeitzeugen bildet das Hochwasser von 1946 daher eine wichtige Erinnerungsmarke. Schon 5 Jahre nach der Katastrophe erschienen in den Lokalzeitungen die ersten Rückblicke, jedes weitere „runde Jubiläum“ wurde von Zeitzeugenberichten und Zeitungsbeiträgen begleitet. 50 Jahre nach dem Hochwasser erinnerten 1996 eine große Wanderausstellung, zahlreiche Aufsätze und ein eigenes Erinnerungsbuch an das katastrophale Ereignis.
75 Jahre nach der großen Flut stehen heute nur noch wenige Zeitzeugen zur Verfügung, etwa Karl-Ludwig Galle aus Nordhorn, der als 18jähriger mit seinem Faltboot durch die überfluteten Straßen von Lingen paddelte. Oder den Geschehnissen beim Hochwasser in Meppen, denen die Schriftstellerin Maria Mönch-Tegeder mit ihrem Bericht „De Waternaut“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat.
Über einen Babyboom 9 Monate nach dem Hochwasser ist übrigens nichts bekannt.
1952 veranstaltete die „Evangelische Volksschule an der Marienstraße“ in Lingen Projekttage zum Thema „Aus der Geschichte Lingens“. Die damals entstandene Projektmappe ist im Emslandmuseum Lingen noch vorhanden und enthält auch einen Bericht von Fritz Linnemann (1938-2018) über das Hochwasser 1946. Der spätere Fahrrad- und Nähmaschinenmechaniker hatte sein Elternhaus in der Innenstadt an der Kivelingstraße. Dieser Bereich war vom Hochwasser besonders stark betroffen. Linnemann schildert unter dem Titel „Hochwasser in Lingen“ zunächst die Erlebnisse einer Zeitzeugin, seiner Lehrerin Marie-Louise Galle:
„Frau Galle, eine Augenzeugin, erzählt:
Am Samstag, dem 10.2.1946, konnte ich noch bis zu Bekannten gehen, die nicht weit von uns wohnten. Als ich nach etwa 1 – 2 Stunden wieder nach Hause gehen wollte, mußte mein Sohn mich mit dem Paddelboot abholen. In der Nacht um 2 Uhr kam das Wasser zum Stillstand. In unserem Hause stand das Wasser bis zu 1,25 m hoch.
Am Sonntag morgen kamen englische Soldaten mit Kähnen und brachten uns Brot, sonst hätten wir nichts zu essen gehabt. Diesmal gab es Brot ohne Marken. Unser Boot leistete in diesen Tagen gute Dienste. Wir fuhren in den Straßen umher. Unterwegs trafen wir Polen, die mit Flößen fuhren. Sie begrüßten uns und setzten ihre Fahrt fort.
Das Hochwasser hat genau 1 Woche angedauert. Am nächsten Sonnabend konnten wir schon wieder auf Kanistern laufen, so war das Wasser schon wieder gefallen.
Als das Hochwasser abgesackt war, war im Kanal zu viel Wasser. Deshalb wurde etwa 500 Meter hinter der Kirchhofsbrücke ein Durchstich gemacht. Da lief das Wasser quer durch die Felder in die Ems hinein. Nun sackte das Wasser langsam ab. (Der Durchstich ist heute [1952] noch zu erkennen). In der Ems aber war noch längere Zeit ein hoher Wasserstand.“
Im Anschluss daran hat Fritz Linnemann seine eigenen Erinnerungen aufgeschrieben: „Als ich am Sonntag auf die Straße ging, sah ich, wie sie schon zum Teil voller Wasser war. Schnell ging ich zu meiner Tante. Hier baute ich mir ein Floß zusammen. Als das Wasser nun immer höher stieg, setzt ich mich auf es. In der Großen Straße schwammen alte Eimer. Auch begegnete mir ein totes Kaninchen. Nach meiner Schätzung stand das Wasser jetzt etwa 0,70 m hoch.
In der Großen Straße hatten die Geschäftsleute ihre Fensterscheiben herausgenommen. Dann waren Bretter davorgenagelt. Der Marktplatz sah aus wie ein kleiner Teich. Auch hier schwamm allerhand Unzeug herum. Jetzt fuhr ich wieder nach Hause. Die Nächte verbrachten wir bei uns oben. Oft hörten wir das Quieken der ertrinkenden Tiere. Nach einer Woche ging das Wasser endlich wieder zurück.“
Es folgt dann noch ein weiterer Zeitzeugenbericht, den sein Mitschüler Norbert Köhler aus den Erinnerungen seiner Großmutter mitteilte:
„Die Oma meines Schulkameraden (Norbert Köhler) erzählt: Im Februar 1946, nach ein paar regenreichen Wochen, fing auf der Meppenerstraße, in der Nähe der jetzigen Drogerie Hörstmann, der Stadtgraben an überzulaufen. Das Wasser stand am Abend schon auf der Straße. Man ahnte aber nichts und meinte, daß das Wasser vom Regen stamme. Über Nacht wurde es anders. Das Wasser stieg höher und höher. Morgen schon ganz früh gingen die Sirenen. Auf den Straßen rauschte das Wasser. Mein Sohn wollte nach dem Vieh gucken. Er zog sich Stiefel an und ging los. Er konnte zum Glück noch alles retten. Unser Hund ist vor Angst auf den Boden gegangen, wo wir ihn später auffanden. Unsere Gänse haben sich selbständig gemacht.
Unter in unserer Küche war ein Schrank umgefallen und schwamm dort herum. Das Geschirr ging kaputt. Im Keller unseres Hauses hatte sich das Wasser ein Loch durchgebohrt. Hierdurch strömte das Wasser so schnell, daß wir uns nichts mehr zu essen herausholen konnten. Auf dem Marktplatz war das Wasser so hoch, daß man den Lautsprecher nur noch ein Stück sehen konnte. Dieser Wasserstand hielt aber nicht lange an, sondern fiel bis zu 1 ½ m. Bei diesem Wasserstand blieb das Wasser eine Woche stehen.
So allmählich verspürten wir in den Häusern Hunger. Da wir in unserer Backstube noch 120 Brote hatten, konnten wir uns und unseren Nachbarn noch helfen. Als wir nicht mehr hatten, wurden wir durch die Engländer ernährt. Wir bekamen in der Woche mit 6 Personen 3 Brote. Es war wenig. Die jungen Männer bauten sich Flöße und sorgten für Nahrung.
Stühle, Tische, Schränke, Enten und Gänse schwammen auf der Straße. Es war ein grausiger Anblick. So allmählich zog das Wasser ab. Es dauerte natürlich lange, bis alles aus der Stadt war. Nun ging die Aufräumungsarbeit los. Jeder sah zu, daß er sein Eigentum wieder bekam. Trotzdem hatten die Bewohner Lingens viel Schaden und Verlust. Bei dem einen war das Vieh weg, dem anderen war eine Mauer des Hauses eingebrochen, jeder hatte eine Klage. Die ersten Tage suchte man nach dem Grund des Hochwassers. Man erzählte sich, daß der Düker gebrochen sei. Bei uns war die erste Zeit auch viel zu tun. Es entstand bei uns vor der Tür ein Andrang. Jeder wollte Brot haben. Mein Sohn hatte viel zu tun. Er mußte die ganze Nacht backen und bekam doch nicht genug Brot, die die Kunden zu befriedigen. Dies erzählte mir meine Oma.
Als wir heute aus dem Schulgebäude gingen, fiel uns ein dunkler Streifen an der Wand auf. Wir fragten uns, ob dieser auch vom Hochwasser herrührte. Wir fragten Herrn Stolp, der gerade im Flur stand, ob dieser Streifen doch vom Hochwasser herrührte. Er bejahte. Wir holten uns ein Metermaß und maßen ab, wie hoch das Wasser gestanden hatte. Das Wasser stand in unserer Schule 1,6 m hoch.“
(Aus der Geschichte Lingens. Projektarbeit Klasse 8a der Evangelischen Schule an der Marienstraße, 1952, S. 189-193; Orig. im Emslandmuseum Lingen)
Was bleibt nach 75 Jahren von der großen Naturkatastrophe? Zum einen die Hochwassermarken an einigen Rathäusern und Brücken, die an einem friedlichen Sommertag an der Ems unglaublich erscheinen. Dann die Fotos und Berichte der Zeitzeugen. Und all diese Zeugnisse erinnern daran, dass ein Jahrhunderthochwasser an der Ems sich jederzeit wiederholen kann.