Eisenbahnerstadt und Behördensitz im Südlichen Emsland

1866 wurde aus dem Königreich Hannover eine preußische Provinz und 1885 aus dem alten Amtssitz Lingen die Kreisstadt für das Südliche Emsland. Die Stadt an der Ems entwickelte sich damit zu einer typischen Kleinstadt im Deutschen Kaiserreich, das 1871 gegründet wurde und 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs unterging.

Das Eisenbahnausbesserungswerk Lingen bildete damals das industrielle Zentrum der Region. Doch auch viele Landesbehörden hatten hier ihren Sitz: das staatliche Bauamt und die Straßenbauverwaltung, das Amtsgericht und die Strafanstalt, Zoll- und Finanzbehörden, die Reichspost und die Bahnstation, das Katasteramt und die Kanalverwaltung. So gab es in der Stadt eine starke Beamtenschaft und viele Beschäftigte im Öffentlichen Dienst.

Hinzu kamen verschiedene Militärbehörden. Sie waren unter anderem für die Aushebung der Rekruten zuständig. Der Dienst beim Heer oder in der Marine galt damals als Ehrenpflicht und war für viele Wehrpflichtige ein echtes Abenteuer.

An einen großen Krieg glaubte bis 1914 niemand, denn die Königshäuser in Europa waren untereinander verwandt und die Volkswirtschaften eng verflochten. Wie sollte da ein Krieg entstehen können?

Vor genau 150 Jahren hatte Bismarck 1873 den „Kulturkampf“ des preußischen Staates gegen die katholische Kirche eingeleitet und damit viele Emsländer gegen Kaiser Wilhem den Ersten aufgebracht. Die Spenden für ein Bismarck-Denkmal in Lingen blieben daher bescheiden und am Ende reichte es nur für eine kleine Bronzetafel auf einem Findling am Mühlentor.

Doch unter Wilhelm dem Zweiten entspannte sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche und nun zeigten sich auch die Katholiken als treue Untertanen.

In der Innenstadt hatten zahlreiche Kaufleute, Gastwirte und Handwerker ihre Geschäfte. Besonders an den Viehmarkttagen und sonntags nach den Gottesdiensten herrschte in den Gaststätten und Kaufläden viel Betrieb. Die Geschäftsräume befanden sich meistens im Erdgeschoss, während die Inhaber in der oberen Etage wohnten. In den meisten Häusern der Stadt herrschte drangvolle Enge. Die Wohnviertel und Gewerbegebiete außerhalb der Innenstadt gab es damals noch nicht.

Eine lebendige Kneipenszene und ein breit gefächertes Vereinswesen sorgten für einen hohen Freizeitwert in der Stadt. Die Bandbreite reichte von den Kivelingen und Bürgerschützen über den Eisenbahnerverein bis zum Evangelischen Arbeiter-Bildungsverein.

Der Kolping-Gesellenverein sprach mit seinen Bildungs- und Kulturveranstaltungen die katholische Bevölkerung in Lingen an. Überhaupt hatte das kirchliche Leben aller Konfessionen einen hohen Stellenwert Auch die kleine Jüdische Synagogengemeinde war gut organisiert und in das gesellschaftliche Leben integriert.

Die ersten Sportvereine wurden damals gegründet und die Stadt baute sogar eine Turnhalle, die auch von den zahlreichen Schulen genutzt wurde. Der Dortmund-Ems-Kanal bot idealen Möglichkeiten für den Rudersport.

Zwei getrennte Badeanstalten sorgten dafür, dass sich Männer und Frauen beim Baden auf keinen Fall in die Quere kamen.

Mit einer zentralen Wasserversorgung, eine Gasleitungsnetz samt Straßenlaternen und dem städtischen Schlachthof besaß Lingen eine beachtliche Infrastruktur und es ließ sich in der Stadt gut leben. Nur den Anschluss an das Elektrizitätsnetz erhielt Lingen erst vergleichsweise spät im Jahr 1925.

Nur mühsam schritt die Anlage neue Wohngebiete voran. Entlang der Hauptstraßen zogen sich die „Langen Jammer“ mit Reihenhauswohnungen für die Eisenbahnarbeiter bis weit in das Umland. Wer ein eigenes Haus bauen wollte, brauchte einen Bauplatz an einer bestehenden Straße oder einem der zahlreichen Gartenwege. Diesen waren aber häufig nicht ausgebaut und nur teilweise erschlossen.

Ab 1914 beende der Erste Weltkrieg eine lange Phase des Aufschwungs und Wohlstands im Kaiserreich. Rüstungswahnsinn, unzählige Kriegstote, Mangelwirtschaft und Hunger, Inflation und Massenarmut markierten auch in Lingen das Ende dieser Epoche.